«Jetzt einmal genau auf den Punkt schauen und die Augen offenhalten.»
Nevetha fokussierte angestrengt den roten Kreis, der sie etwas an einen Optikerbesuch erinnerte. «Wir haben seit einer Weile ein Schlüsselsystem, das auf biometrischen Daten beruht, wir haben gute Erfahrungen mit dem Retinascan gemacht. Natürlich sind die Informationen verschlüsselt auf dem Level 4 Server gespeichert. Falls du dich entschliesst, nicht mehr bei uns zu arbeiten, werden alle deine persönlichen Daten gelöscht. Aber willkommen im Team, jetzt bleibt keine Tür mehr verschlossen für dich.»
Markus zwinkerte ihr zu. Bei Amago hatte man immer nur Zutrittsrechte zu denjenigen Räumen erhalten, die dem entsprechenden Circle zugewiesen waren. «Wir freuen uns sehr, dass du auf die gute Seite gewechselt bist.» Nevetha freute sich auch. Tatsächlich war dieser erste Arbeitstag das aufregendste, was sie seit langem erlebt hatte. Sie wusste, dass die Entscheidung, zu Commonity zu wechseln, genau die richtige war.
Schon die Büros waren irgendwie menschlicher. Tische und Stühle, ein paar Pflanzen. An den Wänden hingen Poster und Bilder, die die Mitarbeitenden selbst aufgehängt hatten. Bei Amago war jeder Zentimeter des Büros durchkonzipiert gewesen, damit ideal auf die menschlichen Bedürfnisse eingegangen werden konnte. Aber natürlich auch – oder vielmehr – um die Produktivität zu maximieren. Tageslichtlampen, die entsprechend der Jahreszeit und angepasst auf den Melaninwert der Angestellten die Produktion von Vitamin D3 stimulierten. Stündliche Erinnerungen, die die Angestellten dazu ermunterten, sich kurz zu dehnen oder eine Powermeditation durchzuführen.
Es war ein Vertrauensvorschuss und zwar kein geringer, Nevatha Zutritt zu allen Räumen zu gewähren. Schliesslich hätte sie auch ein Industriespitzel sein können. Im letzten Jahr gab es zum ersten Mal eine signifikante Abnahme der Nutzung der Amagoprodukte, was das Management langsam ziemlich nervös machte. Die Zahlen spiegelten ziemlich genau die Zunahme der User von Commonity. Sie waren inzwischen so robust, dass klar war, dass es sich hierbei nicht um eine Fluktuation, sondern um eine Abwanderung handelte. Man war also alarmiert. Nevetha war auch die fünfte Person vom inner circle, also einer Kaderposition, die im letzten Quartal nicht nur kündigte, sondern auch zu Commonity wechselte. Sie verzichtete auf eine leitende Position bei Amago und einen hohen Lohn, um an einem Internet mit zu bauen, das den Menschen als Werkzeug diente und nicht an ihnen verdient.
Markus öffnete die Tür zu einem Raum, in dem ungefähr zehn Menschen an Computern sassen, verschiedene Bildschirme schwirrten um die einzelnen Personen. Im hinteren Teil des Raumes war, abgetrennt durch eine Glaswand, gerade jemand am Holo-Callen und sass mit vier, ebenfalls entspannt wirkenden Hologrammen an einem Tisch. Man konnte ihr Gespräch allerdings nicht hören. «Eine noisecancelling Glaswand, die haben wir uns geleistet», sagte Markus, der ihrem Blick aufmerksam folgte und hie und da etwas kommentierte. «Wir haben eigentlich keine festen Arbeitsplätze, aber es hat sich trotzdem so etwas wie eine Sitzordnung etabliert, du weisst ja, Menschen sind Gewohnheitstiere.»
Nach der Fusion von Google und Amazon zu Amago war es lange Zeit unmöglich gewesen, deren Marktstellung auch nur im Geringsten anzufechten. Dann kam Commonity. Die dezentrale Plattform, die offene Schnittstellen, transparente Algorithmen, geschützte Daten und ansprechendes Design verband. Und zum Ziel hatte, endlich dieser immer dystopischer werdenden Realität ein Ende zu setzen. Das war wahrscheinlich so grössenwahnsinnig wie unmöglich. Ihre Ressourcen waren in jeder Hinsicht in einem anderen Universum, ihr Einfluss in Politik und Wirtschaft praktisch nicht vorhanden. Aber sie waren viele, post-materialistisch und gut ausgebildet. In eine, dem Untergang geweihte Welt hineingeboren, hatten sie sich zusammengetan, um eine Alternative zu versuchen. Und es war die ergebnisoffene Natur eines Versuchs, die einen Ausweg darstellte aus der algorithmisch prädeterminierten Plattformlogik, die ihr Leben bestimmte. Es war ein Streifen Hoffnung am Horizont.
Nevetha und Markus spazierten ins angrenzende Zimmer. Durch die geöffnete Tür kam ihr, bevor sie in den Raum sehen konnte, ein Geräuschteppich entgegen. Stimmen, Musik und ein eigenartiges Kling, das sich in kurzen Intervallen wiederholte. Um die Kücheninsel standen zwei ihrer Mitarbeitenden mit Kaffeetassen in den Händen. Drei weitere verdeckten die Sicht auf die Geräuschquelle des Kling. «Das hier ist unser Aufenthaltsraum, magst du einen Kaffee?», fragte Markus sie. Esra und Sahar, die Kaffeetrinkenden, stellten sich Nevetha vor. Die drei anderen führten anscheinend ein angeregtes Gespräch, denn sie sahen nicht auf, als Nevetha mit Markus den Raum betrat. Nevetha konnte nicht genau sagen, worum es ging. «Lou, Kaya und Eve führen wohl gerade wieder Grundsatzdiskussionen», bemerkte Markus in ihre Richtung. Da drehten sie sich um und gaben den Blick frei auf eine Vitrine, in der ein Drehmechanismus unentwegt eine Münze warf. Von hier kam das Geräusch, das Kling, das Nevetha vorher nicht zuordnen konnte: Die Daumenregel. Sie hatte schon viel von ihr gehört und hätte nicht gedacht, dass sie sie so schnell in Aktion sehen würde. «Die Daumenregel, original und unverändert, aus dem Jahr 2039.» Markus zeigte stolz und mit einer bedeutungsvollen Geste auf die Vitrine. «Manchmal, wenn wir uns nicht entscheiden können, ob wir von Curryhuman oder Peaproteino Essen bestellen sollen, werfen wir eine Münze.» Alle lachten.
«Natürlich brauchen wir die Daumenregel nicht nur dazu. Die Daumenregel läuft jeden Tag zwei Stunden. Diese Kamera filmt dann die Ergebnisse, übersetzt sie in einen Zahlenstrang aus Einsen und Nullen, die als Algorithmus ausgewertet werden. Wie du weisst, ist die Daumenregel eines der wichtigsten Objekte für Commonity. Wir brauchen das Internet und insbesondere die Plattformen inzwischen fast äquivalent zur analogen Öffentlichkeit. Wir treffen unsere Freundinnen, tauschen uns aus, oder bilden uns weiter. Viele führen ihr Geschäft online und vermarkten etwas – oder sich selbst. Aber anders als in der analogen Welt gibt es etwas nicht auf Plattformen: den Zufall. Alle Inhalte und Informationen, auf die wir im Internet stossen, jede Person, auf die wir treffen, ist das Resultat von optimierten und rationalisierten Berechnungen. Heute entscheiden Algorithmen, was, oder wer, am besten zu uns passt. Und bei unserer Konkurrenz sind alle Entscheidungen auf ein Ziel ausgelegt: Profitmaximierung.
Algorithmen sind letztendlich menschgemacht. Und Menschen können die Welt letztlich immer nur durch ihre eigenen Augen betrachten, sie werden sich nie gänzlich frei machen können von subjektiven Voreingenommenheiten. Folglich werden auch Algorithmen nie neutral sein. Doch Verzerrungen zu erkennen, das weisst du ja selbst, ist heutzutage unmöglich, so komplex wie die Algorithmen mittlerweile sind. Kaum jemand kann sie mehr nachvollziehen. Sie verändern unser Verhalten, wissen genau, wie sie eine gewisse Reaktion von uns erzeugen und können unsere nächsten Schritte genau vorhersagen. Wie natürlich ist es, unser Verhalten auf den sozialen Medien? Würde man tatsächlich jemandem eine Morddrohung ins Gesicht schreien, nur wegen einer anderen Meinung?
Am Anfang von Commonity beschäftigten uns genau diese Fragen. Jedes Bedürfnis kann inzwischen online befriedigt werden. Aber diese virtuelle Realität ist völlig konstruiert, alles was einem begegnet, wird individuell auf einen zugeschnitten. Welche ethischen Grundsätze wendet man an, um zu verhindern, dass es zu negativen Folgeerscheinungen kommt? Welche Entscheidungsparameter werden eingesetzt, damit User sich in der Informationsflut zurechtzufinden können, ohne Realitäten zu erschaffen, die lediglich bestehende Ansichten verstärken? Ist es in Ordnung, einer Vegetarierin auf die Suchanfrage «Curry» keine Fleischrezepte zu zeigen? Gleichzeitig sollten dem Verschwörungstheoretiker nicht nur obskure Blogs angezeigt werden, die seine Meinung bestätigen. Wo ist die Grenze?
Das Element des Zufalls liess uns nicht los, zumal es etwas vom wenigen ist, das digital schwer zu reproduzieren ist. Irgendwann, während einer langen Programmiernacht warfen wir eine Münze, tatsächlich um zu entscheiden, wo wir Essen holen würden.» Markus kichert: «Und da kam uns die Idee: Ein Münzwurf ist eigentlich eine simple Handlungsanweisung, ein simpler Algorithmus also. Verständlich für alle, transparent und unbeeinflussbar. Wir überlegten uns, ob wir einfach unsere Inhalte auf der Plattform dem Zufall überlassen sollten. Im echten Leben trifft man ja vielleicht zufällig die Liebe des Lebens im Wald beim Joggen. Verlockend, aber mit der Menge an Information, mit der wir täglich konfrontiert sind, kaum umzusetzen. Es brauchte sinnvolle Sortieralgorithmen und trotzdem sollte das Element des Zufalls nicht verloren gehen. Wie konnten wir also beides vereinen? Wir entschieden uns für eine neue Herangehensweise: Algorithm Diversity – in der Vielfalt liegt die Stärke, einer unserer Hauptgrundsätze. Algorithmen können fehlbar sein, verzerrt, nicht objektiv. Genauso wie ein einzelner Mensch zwangsläufig eine Perspektive hat die von Herkunft, Alter, Gender oder Religionszugehörigkeit beeinflusst ist. Objektivität als Einzelne zu erreichen, scheint unmöglich. Aber im Kollektiv? Es wurde klar, dass wir nur bessere Entscheidungssysteme programmieren können, wenn wir eine globale Kollaboration anstreben, Entwicklerteams, die über die ganze Welt verteilt ihre Codes an ihren jeweiligen Lebensbedingungen testeten. Das braucht mehr Zeit, aber die Ergebnisse sind es wert. Im Algogremium nimmt die Daumenregel immer noch eine wichtige Rolle ein», Markus schmunzelt. Nevetha liess sich vom Pathos anstecken, der wohl auch nötig war, um bei Commonity zu arbeiten.