Die Zukunft muss aktiv verhandelt und gestaltet werden – und zwar demokratisch. Für die Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung (TA-SWISS) bearbeitete das Dezentrum drei Zukunftsszenarien für eine digitale Demokratie im Jahr 2050. In einem partizipativen und interdisziplinären Prozess entstanden drei Kurzgeschichten, die je von einem spekulativen Objekt illustriert werden.
Drei digitale Zukünfte der Demokratie 2050
Die Digitalisierung verändert unser Leben. Wie wirkt sich das auf unsere Demokratie aus? Wie digital soll die Demokratie der Zukunft sein?
Um proaktiv auf eine wünschenswerte Zukunft hinzuarbeiten, brauchen wir als Gesellschaft eine geteilte Vorstellung davon. Das Spekulieren über wünschenswerte Zukünfte ist deshalb ein wichtiger Teil der Partizipation und gehört damit zur Demokratie. Genau an diesem Punkt setzt unsere Studie an. Was für eine (digitale) Zukunft wollen wir eigentlich? Das Resultat sind drei Zukunftsszenarien für eine (digitale) Demokratie im Jahr 2050, welche je durch eine Kurzgeschichte und ein spekulatives Artefakt erzählt werden.
Die Daumenregel steht in der Hacker- und Entwickler:innengemeinschaft «Commonity» und simuliert einen Münzwurf – eine effiziente und transparente Entscheidungsregel. Sie ist die Ratsältste im «Algogremium», das dem Prinzip «Algorithm Diversity» zuträgt und die dezentrale und open-source basierte Plattform von Commonity modellieren. Entstanden ist das Artefakt in den Anfängen, im Jahr 2039. Anstatt auf Profitmaximierung setzen sie auf Gemeingut und Gemeinschaft. Digitale Plattformen, die schon längst eine neue Form von Öffentlichkeit darstellen, sollen auch demokratisch organisiert sein. Die Daumenregel steht für ihre Mission, ein Internet der Allgemeinheit zu erschaffen, das transparent und unparteiisch ist.
So wird Commonity im Jahr 2050 zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz von «Amago», der Fusion von Amazon und Google. Ist der Zufall eines Münzwurfs genau das, was wir in einer optimierten und durchalgorithmisierten digitalen Welt brauchen? Ein Lichtstreifen am Horizont in einer Zukunft, in der es der Staat verpasst hat, die Macht der Technologieoligopole zu begrenzen und in der Bürgerinnen und Bürger als blosse Datensubjekte behandelt werden?
In einer Asservatenkammer im Jahr 2050 liegt ein eingeschweisstes Pilzrisotto. Ein polizeilich konfisziertes Beweisstück. Die Totalrevision der Schweizer Verfassung aus dem Jahr 2041 ermöglicht es, Gesetze binnen Stunden zu erlassen. Der Prozess der Vernehmlassung und Einführung der neuen Gesetze in der «Connected Democracy» geht nun ganz schnell. Für einmal zu schnell.
Eigentlich hatte die «Vorlage zur Ausweitung des Rechtsstatus der Mykorrhiza» zum Ziel, die Bedürfnisse von Flora und Fauna besser zu schützen. Doch es gab einen Fehler im «Crowdwriting», und noch ehe der Fehler entdeckt werden konnte, war die Vorlage angenommen. Mit verheerenden Folgen: Der Verzehr von Speisepilzen wird zur Straftat. Unzählige Speisepilze werden daraufhin in Privathaushalten als Beweismittel konfisziert.
Was passiert mit der kleinen Esra, die gerade ihren Risotto ai Funghi Porcini essen wollte? Wie findet man die Balance zwischen den langsam mahlenden Mühlen der Demokratie und der immer schneller werdenden digitalen Welt?
Obliviscis ist eine bewusstseinsverändernde Pille, dessen Einnahme Menschen befähigt, faktenbasierte Entscheidungen im Sinne des Allgemeinwohls zu treffen. Sie ermöglicht es, durch eine Ich-Dissoziation von den eigenen Partikularinteressen zu abstrahieren und objektiv auf die Welt zu schauen. Das sagen sie zumindest. Zu lange hat man es verpasst, dem konfrontativen Ton auf den digitalen Plattformen, der allmählich auch auf andere (offline) Sphären der Gesellschaft überschwappte, Einhalt zu bieten. Es folgte eine Negativspirale der Provokation und Eskalation. Solidarität und soziale Kohäsion sind zu blossen Worthülsen geworden.
Ist Obliviscis die Antwort auf die Frage, wie eine polarisierte und radikalisierte Gesellschaft wieder zu demokratischen Werten findet? Im Jahr 2050 wird die erste Pilotstudie dazu laufen. Wer von den jungen «Rekrutes» des Service Citoyenes wird sich als erster melden, um bei der Studie mitzumachen? Ist eine bewusstseinsverändernde Droge tatsächlich das Mittel der Wahl, damit Bürgerinnen und Bürger der Zukunft lernen, wie Demokratie geht?
Gestalten Sie die Zukunft mit uns: Wir entwickeln spekulative Artefakte und Zukunftsszenarien, um mögliche Entwicklungen greifbar zu machen und Innovationen zu fördern.
Die Artefakte waren 2021 in der Ausstellung «Digitale Demokratie. Eine interaktive Reise in die politische Zukunft» im PolitForum Bern ausgestellt und 2022 im Kornhaus Forum in «Sammeln, Reden, Entscheiden. Orte der Demokratie» zu sehen. Aktuell sind sie Teil der Dauerausstellung des PolitForums Bern.
Szenariotechnik und spekulatives Design als Methodik
Die drei Szenarien sind das Resultat eines partizipativen und gestalterischen Prozesses, der zwei spekulative Methodenansätze miteinander verknüpft. So wurde in einer ersten Projektphase auf die Szenariotechnik, ein bewährtes Instrument der Zukunftsforschung, und in der zweiten Phase auf das spekulative Design, ein gestalterischer und experimenteller Forschungsansatz, zurückgegriffen. Beide Methoden gehen von der gleichen Grundannahme aus: Sie verstehen Zukunft als ein Spektrum, das viele mögliche Zukünfte umfasst.
In Phase I wurden, unter Einbezug von interdisziplinären Fach- und Alltagsexpert:innen, Zukunftsbilder für eine digitale Demokratie erarbeitet. Diese basieren auf einer sorgfältigen Einflussanalyse, welche gegenwärtige Entwicklungstendenzen aufnimmt und sie systematisch und transparent in die Zukunft extrapoliert. Auf dieser Grundlage wurden drei Themen- beziehungsweise Spannungsfelder herausgearbeitet, die das Verhältnis von Demokratie und Digitalisierung prägen: Erstens die Rolle des Staates gegenüber den immer mächtiger werdenden Technologieunternehmen (Staat vs. Big Tech), zweitens die Polarisierungs- und Radikalisierungstendenzen gesellschaftlicher Diskurse auf digitalen Plattformen (Deliberation vs. Konfrontation), und drittens der potenzielle Ausschluss von «sozial Abgehängten» aus dem politischen System (Inklusion vs. Exklusion), was langfristig die soziale Kohäsion bedroht.
Ausgehend von diesen drei Spannungsfeldern entstanden in Phase II drei Zukunftsszenarien für eine digitale Demokratie im Jahr 2050. Die Szenarien wurden schliesslich mit erzählerisch-gestalterischen Mitteln in eine narrative Form gebracht. So entstand für jedes Szenario eine Kurzgeschichte, welche in Kollaboration mit der Designagentur Studio Porto in ein spekulatives Artefakt übersetzt wurde. Spekulative Artefakte sind Objekte, welche Normen und Werte verkörpern, die im Widerspruch zur Gegenwart stehen und diese hinterfragen. Indem sie von der Gegenwart und den vorherrschenden Tatsachen entkoppelt sind, können auf diese Weise gesellschaftliche Möglichkeiten diskutieren. Als Ansichts- und Ausstellungsobjekte veranschaulichen sie die Szenarien und bieten einen niederschwelligen Einstieg in eine Diskussion. Komplexe und immaterielle Diskurse rund um Digitalisierung und Demokratie werden so zu etwas ganz Konkretem und Vorstellbarem. Insofern ist die Arbeit mit der Szenariotechnik und dem spekulativen Design eine bewusst gewählte Diskurs- und Vermittlungsstrategie: Dank der Verknüpfung dieser beiden Methoden können die in Phase I entwickelten Szenarien Expert:innenkreise verlassen und von einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert und weiterentwickelt werden.
Die Studie «Szenarien zu Demokratie und Digitalisierung in der Schweiz: Ein partizipatives Zukunftsexperiment» ist Teil des TA-SWISS Projektes Digitalisierung und Demokratie, welches zwei weitere Teilstudien umfasst, namentlich des gfs.bern und des Dachverband Schweizer Jugendparlamente. Die Artefakte entstanden in Zusammenarbeit mit Studio Porto und wurden fotografiert von Tobias Siebrecht.
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