Close [X] – wie weiter mit Twitter?
«Mein Twitter ist zu diesem Zeitpunkt so ziemlich völliger Unsinn», tweetete Elon Musk 2019 als unheilvolle Vorhersage dessen, was sich in den kommenden Jahren auf Twitter abspielen sollte. Wie soll es nun weitergehen?
Seit 2018 ist das Dezentrum auf Twitter präsent. Über 1000
Followern stellen wir unsere Projekte vor, informieren uns über
Partnerorganisationen und teilen spannende Einblicke in die Welt
digitaler Transformation. Twitter ist für uns eine wichtige Plattform,
um informiert zu bleiben und gleichzeitig über unsere Arbeit zu
berichten.
Seit Elon Musk Twitter übernommen hat, ist die Plattform kaum wiederzuerkennen.
Von
der Abschaffung des blauen Vogels als Logo und willkürlichen
Regeländerungen, bis hin zum neuen Namen «X» – dem reichsten Mann der
Welt scheinen die Ideen nicht auszugehen, um die Nutzer:innen zu
irritieren.
Im Dezentrum beobachten wir mehrere Entwicklungen mit
Sorge: die Ansichten und das Verhalten Musks, der deutliche Anstieg
bedenklicher Inhalte, die entgleiste Diskussionskultur der User:innen
und die Verbreitung von Desinformation. Beispiele dafür wären zu nennen,
dass Musk frauenfeindliche Dinge über US-Senatorin Elizabeth Warren
twitterte, weil sie sagte, er solle mehr Steuern zahlen.1 Oder dass
Mediendienste und Fachleute erhebliche Desinformationen im Zusammenhang
mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas im Jahr 2023
beobachten.2, 3, 4
Als Think and Do Tank rund um Themen des Digitalen, möchten
wir diese Entwicklungen aktiv reflektieren und einen Diskurs anstossen.
Dafür stellen wir drei Fragen in den Raum:
Welchen Nutzen hat Twitter für uns und für die Gesellschaft?
Welchen Schaden verursacht Twitter in der Gesellschaft?
Sind Twitter und Elon Musk voneinander zu trennen?
1. Twitter als Demokratiebooster?
Die Vorteile von Twitter sind nicht von der Hand zu weisen.
Der Kurznachrichtendienst hat verändert, wie wir Informationen
erlangen, politisch ins Gespräch kommen und Menschen eine Öffentlichkeit
erhalten. Folgende Kernaspekte gehören zu den Grundvorteilen Twitters:
Ermöglicht Communitys:
Von Einzelpersonen bis hin zu den grössten multinationalen
Unternehmen – Twitter bietet allen Arten von Nutzer:innen eine
Plattform, um leicht mit einer grossen Zielgruppe zu kommunizieren.
Menschen, die sonst über keine Ressourcen verfügen, können eine
Öffentlichkeit erreichen, Teil einer eigenen Community werden und ihre
Meinung frei äussern. Privatpersonen, Politiker:innen, Journalist:innen
und Unternehmen können direkt miteinander in Kontakt treten,
Informationen austauschen und diskutieren. Als Marke kann man mit
Kund:innen in direkten Kontakt treten und so eine Community aufbauen.
Präsenz einflussreicher Persönlichkeiten:
Wir haben Midjourney gefragt, wie ein typischer Twitter-User aussieht. (Prompt: Typical Twitter user --no birds.)
Im Gegensatz zu anderen sozialen Plattformen wie Instagram
oder TikTok, zeichnet sich Twitter besonders dadurch aus, dass durchs
Band einflussreiche Politiker:innen, Journalist:innen oder
Wissenschaftler:innen vertreten sind und direkt an Debatten teilnehmen.
Eine Umfrage des Wissenschaftsmagazins «Nature» ergab jedoch, dass
inzwischen mehr als 50 % der befragten Wissenschaftler:innen Twitter
verlassen haben.5 Auch eine Branchenumfrage von netzpolitik.org bei
verschiedenen Medien zeichnet ein düsteres Bild. So stelle die ARD
beispielsweise einen deutlichen Verlust von Relevanz fest, das ZDF eine
verschlechterte Stimmung und bei der taz spiele Twitter in Sachen
Reichweite kaum eine Rolle mehr. Die Journalist:innen sprechen von einer
«toxischen Plattform», auf der sie immer weniger aktiv seien.6
Kosten:
Grundsätzlich ist Twitter gratis. Dies ist eine wichtige
Voraussetzung, um Leute zu befähigen, ihre Meinung frei zu äussern. Doch
mit Twitter Blue und verschiedenen kostenpflichtigen Abonnements hat
Twitter diejenigen, die nicht zahlen, eingeschränkt. Während das blaue
Häkchen früher ein verifiziertes und echtes Benutzerkonto erkennbar
machte, zeigt es heute nur, wer für die Nutzung der Plattform bezahlt.
Zwischenzeitlich haben Nicht-Abonnent:innen die Möglichkeit der
Zwei-Faktor-Authentifizierung verloren – eine wichtige
Sicherheitsfunktion. Auch werden verifizierte (zahlende) Konten in
Diskussionen und bei der Suche bevorzugt, wodurch es für kostenlose
Konten schwieriger wird, auf der Plattform sichtbar zu werden.
Twitter hat sich für Nutzer:innen, die nicht für Blue
bezahlen, rapide verschlechtert.7 Zuerst verloren sie ihre blauen
Häkchen, dann ihre Sichtbarkeit. Auch wurde zwischenzeitlich die
Möglichkeit, unbegrenzt Tweets zu lesen, abgeschafft. Im Moment
experimentiert Elon Musk mit weitreichenden Einschränkungen für
Gratis-Nutzer:innen. Wie sich das Twitter-Erlebnis für nicht zahlende
Nutzer:innen entwickelt, hängt von undurchschaubaren und willkürlichen
Prozessen ab.
Unmittelbarkeit von Informationen:
Über Twitter können in Sekunden Informationen global
verbreitet werden. Aktuelle Ereignisse und Entwicklungen werden so für
alle schnell verfügbar. Einer der grössten Vorteile von Twitter war aber
auch schon immer Nachteil zugleich. Denn die selben Mechanismen
ermöglichen es, dass sich Falschmeldungen in Kürze ausbreiten. Studien
der MIT belegen, dass sich Unwahrheiten auf Twitter in allen
Informationskategorien deutlich weiter, schneller, tiefer und breiter
als die Wahrheit verbreiteten.8 Nun hat sich diese Problematik
zusätzlich verschärft. Musk begann nur wenige Tage nach seiner Übernahme
mit der Entlassung von etwa der Hälfte der rund 7.500 Mitarbeitenden
des Unternehmens. Twitter Inc. hat unter dem neuen Eigentümer Elon Musk
tiefgreifende Kürzungen in seinem bereits radikal verkleinerten Team von
Content Moderators vorgenommen, das für die Kontrolle der geteilten
Inhalte zuständig ist, sowie in der Abteilung, die sich mit Hassreden
und Belästigung befasst. Dies scheint konkrete Auswirkungen zu haben.
Forschungsergebnisse zeigen, dass die Website nach der Übernahme durch
Musk hasserfüllter wurde. Laut Forscher:innen der USC, UCLA, UC Merced
und der Oregon State University habe sich die tägliche Nutzung von Hate
Speech durch diejenigen, die zuvor hasserfüllte Tweets gepostet hatten,
nach dem Abschluss des Verkaufs durch Musk fast verdoppelt. Und auch das
Gesamtvolumen von Hate Speech verdoppelte sich auf der gesamten
Website.9
Freie Meinungsäusserung:
Als selbsternannter «Absolutist der freien
Meinungsäusserung»10 will Musk Twitter von jeder Art von Zensur
befreien. Doch auch dieser Ansatz ist nicht gegeben. Elons Twitter
kooperiert in 80 % der Fälle mit staatlichen Zensuranfragen.11 Auch
legt Musk eine hohe Willkür an den Tag, welche Inhalte er blockiert und
welche Akteur:innen er sperrt. Der Chef-Twitterer scheint mehr als
glücklich darüber zu sein, zu entscheiden, welche Art von Rede auf
Twitter erlaubt ist und welche nicht, basierend auf seiner persönlichen
Meinung. Musk begann Ende November 2022 mit der Aufhebung der Sperrung
von Konten, beginnend mit Jordan Peterson und Donald Trump. Mehrere
antifaschistische Konten wurden gesperrt, von denen viele von
rechtsextremen Personen gemeldet wurden und Musk zum Handeln
aufforderten. Zu den gesperrten Konten gehören eine Gruppe, die
Sicherheit für LGBTQ+-Veranstaltungen bietet, und mehrere Konten, die
Musk parodieren.12 Als weiteres Beispiel wäre da Musks wachsende
Besessenheit mit der Transgender-Gemeinschaft zu nennen. Er erklärte,
dass die Wörter «cis» und «cisgender» auf Twitter fortan als
Schimpfwörter gelten.13 Doch «cisgender» bezeichnet einfach eine
Person, die sich mit dem Geschlecht identifiziert, das ihr bei der
Geburt zugewiesen wurde. Es gibt keinen anderen Ausdruck dafür.
«Freie Meinungsäusserung» bedeutet auf Twitter inzwischen
einfach, dass rechtsgerichtete Ideen und Argumente bevorzugt
werden.14
2. Erodiert Twitter den Glauben an einen funktionierenden Rechtsstaat?
Desinformation:
Desinformation ist ein grosses Problem in sozialen Medien.
Auf Twitter hat sich die Problematik, wie bereits ausgeführt, zusätzlich
verschärft. Auf Twitter finden sich Halbwahrheiten, aus dem Kontext
gerissene Zitate, Hass und genuine Fakes. Die Verbreitung solcher
Inhalte zieht in den allermeisten Fällen keine Konsequenzen mit sich.
Verleumdungen, Lügen, Rassismus und menschenverachtende Inhalte auf
Twitter sperren zu lassen, ist oft nur mit rechtlichen Schritten möglich
und bleibt vermögenden Personen vorbehalten.
Trotzdem: Die Plattform hätte sich an geltendes Recht zu halten. Seit
dem 25. August 2023 gibt es mit dem Digital Services Act (DSA) in der
ganzen EU verbindliche Regeln, um gegen rechtswidrige Inhalte,
zunehmende Desinformationen und Bots in den sozialen Netzwerken
vorzugehen. Doch Twitter stützt sich auf den Standpunkt, dass es nicht
für die Inhalte verantwortlich ist, sondern lediglich die Infrastruktur
dafür zur Verfügung stelle. Nun droht Elon Musk mit dem Rückzug aus der
EU. In den letzten Wochen hat Elon Musk angedeutet, dass X in Europa
nicht mehr erhältlich sein könnte, um die neuen Vorschriften der
Europäischen Kommission zu umgehen. 15
Auch der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats werden Fake-Zitate zugeschrieben.
Der Schaden von Desinformation auf politische Meinungsbildung ist
offensichtlich. Zusätzlich muss über weitere Folgen nachgedacht werden.
Auf Twitter könne dir jeder den Tod wünschen und Lügen verbreiten und
dies sei ein Problem für den funktionierenden Rechtsstaat, meint Alena
Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, in dem Podcast der ZEIT
«Alles gesagt?». 16 Im physischen Alltag werde man dafür gebüsst,
wenn man wenige Zentimeter ausserhalb des Parkfelds parkiere. Online
könne einem aber alles widerfahren, ohne dass es Konsequenzen nach sich
ziehe. Wenn man dann erkennt, dass kaum etwas dagegen gemacht werde,
korrodiere dies, laut Buyx, den Glauben an einen funktionierenden
Rechtsstaat.
Zwischenfazit:
Twitter verfügt im Grunde über eine Fülle an
Alleinstellungsmerkmale für demokratische Prozesse. Ein Grossteil dieser
Vorteile sind jedoch zumindest zweifelhaft geworden oder wurden
vollständig unterlaufen. Gerade die Frage, wie stark der Vorteil der
Unmittelbarkeit von Informationen gegenüber der Verbreitung von
Desinformation zu gewichten sei, ist schwierig zu beantworten. Dazu
kommt die grosse Unsicherheit und die darin liegende Sprengkraft, dass
die Gestaltung und Regulation von der Gemütslage einer übermächtigen
Einzelperson abhängt.
Wir vom Dezentrum nutzen Twitter als Kanal, um unsere
Community zu erreichen. Doch ist die potenzielle Gefahr gegenüber dem
überschaubaren Nutzen gerechtfertigt?
3. Musk: Kann man einen Brandstifter ignorieren?
Elon Musk ist nicht nur Hauptaktionär von Twitter und damit
in vielen Bereichen alleiniger Entscheidungsträger. Er reiht sich damit
ein in eine lange Liste von vermögender Personen, die sich medialen
Einfluss erkaufen. Jedoch kommt kein anderes Medienformat an den
globalen Impakt von Twitter heran. Zusätzlich ist Musk als Privatperson
hypersichtbar. Der Multimilliardär macht mit verbalen Ausfällen auf sich
aufmerksam, seine eigene Rhetorik eskaliert zunehmend und er verbreitet
rassistische und antisemitische Verschwörungserzählungen. 17
Die persönliche Twitter-Nutzung von Musk zu trennen ist
schwierig, solange Twitter so direkt von Musk mit nahezu einseitiger
Entscheidungsbefugnis geführt wird. Als reichster Mann der Welt mit
enormer Reichweite haben seine Aussagen immer Konsequenzen auf
Finanzmärkte, Konflikte, Meinungen und somit auf reale, menschliche
Schicksale.
Ob wir als Dezentrum mit der Benutzung von Twitter Musk
direkt unterstützen, hängt davon ab, welchen Wert man Aufmerksamkeit
beimisst. Es hängt auch davon ab, inwiefern sich Twitter für Musk
finanziell auszahlt. Dass mit der Twitter-Nutzung seine Einflussnahme
unterstützt wird, ist jedoch kaum zu verhindern.
4. Was sind die Alternativen?
Elon Musk hat Twitter versenkt. Millionen User:innen fragen
sich nun, wohin es gehen soll. Alternativen sind einige vorhanden:
Mastodon, Threads oder Bluesky wären da als Beispiele zu nennen.
Solange sich ein Grossteil der Leute weiter ausschliesslich
auf Twitter bewegt, sind Alternativen schwierig. Doch immer mehr
Personen und Institutionen stellen einen deutlichen Verlust von Relevanz
und Reichweite fest.
Wann ist also der Moment gekommen, zu gehen?
Was sind eure Erfahrungen mit anderen Plattformen?
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