Ein Sommer – Ein Text von Anna-Sophie Dreussi im Rahmen des Projektes «Spekulative Reportagen»
Um den Fluss sorgte ich mich, wie um eine gute Freundin. “Hast du genug gegessen?”, hatte ich N. heute Morgen gefragt. Wir machen uns Sorgen umeinander, weil wir frei hatten und Zeit, die Falten in unseren Gesichtern genauer anzuschauen. Der Sommer hatte sich tief in ihre Haut gegraben. Ihre Wangen waren dunkler als sonst. Der Sommer zeigte sich darin, wie weit die Brücken aus dem Fluss ragten. Der Sommer hatte den Fluss ausgemergelt. Auf meinem Arbeitsweg schaute ich auf die langen Brückenbeine. Und machte mir Sorgen. Zwei Wochen ohne Regen. “Geht’s dir gut?” N. ist erschöpft. Der Sommer hatte die Stadt leergefegt. Er jagte die Vernünftigen auf die Autositze, vor die Klimaanlage, in den Fahrtwind eines Bootes auf dem Zürichsee, in ihre Ferienwohnungen und in die von ihren Freunden, wo die Temperatur wenigstens nachts unter zwanzig Grad fiel.
Der Tag, an dem ich entschied, zu gehen, war kein besonderer. Ganz im Gegenteil, er war so wie jeder andere. Es war Sommer und die Tage reihten sich in einer über dem Asphalt schimmernden Spannung aneinander. Irgendetwas musste passieren. Mein Morgen begann zu früh. Die Hitze drang schon durch das gekippte Fenster in der Küche, während N. und ich uns Sorgen machten. Der Geruch meiner Sonnencreme vermischte sich mit dem des Kaffees. Ich verabschiedete mich von N. und trank meinen Kaffee nicht aus.
Schweiss sammelte sich unter meinen Haaren in meinem Nacken. Heute sollte es weniger heiss werden als gestern. Aber bei den Temperaturen spielte das keine Rolle. 34 oder 35 Grad, egal.
Ich fragte mich, ob früher Berge nur Berge waren und der Fluss nur ein Fluss. Wenn, dann muss es lange her sein. Wahrscheinlich waren sie das schon lange nicht mehr. Ich fragte mich, ob auch andere in den Bergen und im Fluss sehen, dass uns alles entgleitet. N. wollte nur selten darüber reden. Ich wusste, dass es sie zu sehr schmerzte.
Ich musste an sein Gesicht denken. Ich sah es, wenn ich den Fluss überquerte und ins Wohnquartier abbog, in den Männern, die im Schatten eines Sonnenschirms in ihre Laptops tippten – Indesign geöffnet, Typo für ein Pop-up-Restaurant mit Nose-to-tail-approach oder für eine nachhaltige Bank, spezialisiert auf ETF-Investment. Ich zuckte zusammen. Ich prüfte ihre Gesichtszüge, so wie die Mütter, die gerade gebärt haben, die Finger ihrer Säuglinge zählen. Mit jedem Finger überkommt sie Erleichterung. Ich schaute mir die Augenbrauen, die Nasen, die Sommersprossen dieser Männern an und wusste, dass sie andere waren. Sie waren nicht er. Und mit jedem fremden Gesichtszug überkam mich Erleichterung. Ich erzählte N. nie davon. Wahrscheinlich wusste sie es trotzdem. Sie wusste alles über mich.
Seit Wochen sass ein Schrei in meiner Kehle. Ich wollte so gerne schreien, ausbrechen, die Macht haben.
Das Büro war leer. Die Eltern hatten sich freigenommen, um mit ihren Kindern zu grillen und am Strand zu streiten und CO2-Kompensationen zu kaufen. Recht hatten sie ja. Es war viel zu warm, um zu arbeiten und genau die richtige Temperatur für Streit. Der Ventilator pustete die heisse Luft durch das Büro. Vom Keller zu Hause aus durfte niemand arbeiten. Chefs hatten Angst, dass man zu oft pinkelt oder an Einkaufslisten denkt, statt zu arbeiten. In einem der eingeglasten Meetingräume gestikulierte ein Mann in seinen Laptop.
Ich schaute mir seine Augenbrauen, seine Nase an und beruhigte mich. Ich sah ihn nicht nur in allen Männern, die mir begegneten. Ich sah ihn auch aus den Augenwinkeln, wenn ich meinen Kopf drehte. Ich fragte mich, was er wohl gerade machte. Ob er sich schämte, jetzt, in diesem Moment? Ich kannte ihn nicht. Trotzdem hatte er alles in meinem Leben entschieden. Zum Beispiel, dass mein Körper nun ein anderer war. Er entschied, dass ich ganz still wurde. Ich konnte mich nicht bewegen.
Ich arbeitete schon lange nicht mehr, eigentlich seit es passierte. Ich wusste nicht, was mit mir anzufangen. Also ging ich jeden Morgen ins Büro.
Ich hätte vorbereitet sein sollen. Im Sportunterricht in der Grundschule zeigte uns die Sportlehrerin Selbstverteidigungsgriffe. Sie hatte diesen Blick, der immer damit rechnet, dass die Welt schlecht ist. Ich hatte sie noch nie nett gesehen. Als wir versuchten, uns gegenseitig auf die Matten zu werfen, lobte sie uns. Einmal lächelte sie sogar. Mein Blick war nie wie ihrer. Leider.
Ich arbeitete nicht mehr. Ich konnte nicht mehr arbeiten. Seit Wochen sass ich von acht bis abends nur an meinem Schreibtisch und imitierte das, was die anderen machten. Marc, der sonst vor mir sass und gerade von Bali aus Früchteteller und seine Beine auf Liegestühlen ins Internet postete, suchte letzte Woche nach Akkuschraubern. Er klickte sich durch verschiedene Webseiten, verglich Preise. Ich tat dasselbe. Und heute gestikulierte ich mit meinem Bildschirm. Ich zog meine Brauen hoch, schüttelte den Kopf, fasste mir an die Stirn in Verzweiflung. Wenn mir nichts mehr einfiel, dann schaute ich rüber in den verglasten Meetingraum und schaute mir etwas ab, zusammengepresste Lippen oder ein nervöses Tippen mit den Fingern auf der Tischplatte. Es war einfacher, jemand anderes zu sein, als immer laut schreien zu wollen.
Meine Grundschullehrerin, Frau Ledergerber, beschrieb all ihre Schülerinnen in Floskeln. “Stille Wasser sind tief.” Ich verbrachte in der Primarschule viel Zeit damit, nicht zu blinzeln. Ich zählte die Sekunden mit. Aber eigentlich wusste ich nichts über Stille. Aber ich lernte es über die Jahre. Lernte, dass man mich ruhig am liebsten mochte, dass ich mit einem sedierten Lächeln am schönsten gefunden wurde. Meistens wollte ich nicht gemocht werden. Aber Frauen sollten gemocht werden, sonst wurde ihnen der Tod gewünscht und an ihrem Körper gezupft und jede Leistung zerpflückt mit der Aussage, sie habe sich doch nur hochgeschlafen.
Der Typ kniff die Augen zusammen und setzte wieder an, etwas zu sagen. Dann streckte er einen Finger hoch, wahrscheinlich hatte ihn jemand unterbrochen. Ich dachte in den letzten Tagen oft an Wölfe. An die letzten Rudel, seit die neue Jagdverordnung in Kraft getreten war. Ich fragte mich, ob sie sich schämten, ob sie im Bundeshaus sassen, vor einem traurigen Zmittags-Sandwich und sich schämten. Kurz hörte ich auf, den Typen zu imitieren und stellte mir vor, wie sich der Wald auf meiner Haut anfühlen würde. Zweige, die stechen und Blätter, die meinem Körper entlang gleiten. Wie wäre es, zwischen den Baumstämmen durchblitzen zu können. Meine Nase würde alles riechen, Joggende 800 Meter entfernt, das modrige Holz, die Rehe.
Der Typ im Meetingraum schnippte, sein Meeting dauerte schon viel zu lange. Hier langweilten mich alle. An meinem Schreibtisch fröstelte ich ein bisschen. Ein Ventilator drehte sich um sich selbst und liess die Seiten des Kalenders (März – Bild vom Rheinfall), der an der Wand hing, und die Post-its (Notiz in fremder Handschrift – Handynummer von diesem Typen aus der Strategie) an meinem Bildschirmrand flattern. Die Haare an meinen Oberarmen stellten sich auf. Meine Haut glänzte vom Schweiss. So sieht die Haut von eingeölten Influencerinnen am Pool in Italien aus. Die Schlagzeilen von Waldbränden schaffen es nie zu ihnen, die Eiswürfel in ihren Gläsern schmelzen nie in den Campari. Alles ist gut. Ich entschied mich, zu gehen. Die Berge waren nicht weit. N. konnte ich alles erzählen, wenn ich wiederkommen würde. Ich mochte N. am liebsten. Manchmal, wenn ich wütend war auf sie, las ich die Ein-Stern-Bewertungen, zu den Skin-Care-Produkten, die sie benutzte. “Funktioniert nicht.” “Meine Haut ist nach Benutzung fettig und glänzt.” Gut, dachte ich. Und dann schämte ich mich. Eigentlich passierte das alles selten. In den letzten Wochen aber immer öfter. In den letzten Wochen war ich oft wütend. Vielleicht, weil ich merkte, dass mir etwas weggenommen wurde. Mein Körper. Ich wollte ihn zurück. Die Wut kam plötzlich.
Vor dem Büro umschloss mich die Hitze mit grossen Händen. Alle hatten schlechte Laune. Alle ausser die TikToker, die irgendwo Spiegeleier auf Motorhauben brieten.
Vor einem Café regneten kleine Wassertropfen aus einem Schlauch zur Abkühlung. In der Sonne sahen sie aus wie Staub. Im Bus wechselten sich auf einem Bildschirm Fahrplan und News ab. In Peru protestieren Frauen gegen eine Kupfermine. Ich dachte an meine Kupferspirale. Ich dachte an iPhones, an die Freiheitsstatue. Dann wieder der Fahrplan. Dann ein Wörterrätsel. B L A U R U. Urlaub.
Ich betrachtete mich in der Fensterscheibe des Zugs. Mein Spiegelbild vermischte sich mit trockenen Wiesen und Bergfüssen. Ich sah mal ganz anders aus, da war ich mir sicher. Ich war jemand anderes geworden. Nur wenn ich mich anstrengte, konnte ich irgendwo mich selbst entdecken, in diesen Gesichtszügen, die über die Landschaft holperten.
In den Bergen sah es mal ganz anders aus. Der Regen blieb auch hier aus, bestimmt auch schon mehr als eine Woche. Auf den Postkarten blieb das Panorama makellos, unberührt. Aber wir sind anders geworden. So hätten sie uns gerne, still, ruhig. Wir sollten aufgeräumt sein. Wir sollten klein sein, so dass wir gut auf eine Postkarte passen. Wir sollten anderen gehören. Wölfe verändern alles. Ihre Existenz kann entscheiden, wie viele Biber in einem Wald wohnen, welche Blumen wachsen, oder ob Rehe sie abgrasen, welche Vögel zwischen den Ästen pfeifen.
Durch das Tal führte eine Strasse, an der ich mich störte. Sie erinnerte mich daran, dass es noch eine Welt gab. Hier wurden in den letzten Wochen die wahrscheinlich letzten Wolfsrudel zum Abschuss freigegeben. Hier lernte die Natur still zu sein. Bis dann mal wieder ein Dorf evakuiert werden musste, wegen drohendem Steinschlag. Und dann asphaltierten sie dem Flughafen eine neue Landebahn, weil sonst könnte hier ja alles passieren. Dörfer könnten verschüttet werden, Wölfe könnten über Dorfplatz spazieren, der Bahnhof verwildern. So ist klar, wer hier das Sagen hat. Die Privatjets und Männer mit Jagdtrieb, der ja sowieso zum Mann gehört, also zumindest zu den echten Männern. Die Autos flossen in einem unendlichen Strom der Strasse entlang. Sie würde nie ein Fluss sein.
Und ich suchte die Wölfe. Ich suchte nach mir.