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Close [X] – wie weiter mit Twitter?

Yann Bartal
26.10.2023

«Mein Twitter ist zu diesem Zeitpunkt so ziemlich völliger Unsinn», tweetete Elon Musk 2019 als unheilvolle Vorhersage dessen, was sich in den kommenden Jahren auf Twitter abspielen sollte. Wie soll es nun weitergehen?

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Seit 2018 ist das Dezentrum auf Twitter präsent. Über 1000 Followern stellen wir unsere Projekte vor, informieren uns über Partnerorganisationen und teilen spannende Einblicke in die Welt digitaler Transformation. Twitter ist für uns eine wichtige Plattform, um informiert zu bleiben und gleichzeitig über unsere Arbeit zu berichten.

Seit Elon Musk Twitter übernommen hat, ist die Plattform kaum wiederzuerkennen.
Von der Abschaffung des blauen Vogels als Logo und willkürlichen Regeländerungen, bis hin zum neuen Namen «X» – dem reichsten Mann der Welt scheinen die Ideen nicht auszugehen, um die Nutzer:innen zu irritieren.

Im Dezentrum beobachten wir mehrere Entwicklungen mit Sorge: die Ansichten und das Verhalten Musks, der deutliche Anstieg bedenklicher Inhalte, die entgleiste Diskussionskultur der User:innen und die Verbreitung von Desinformation. Beispiele dafür wären zu nennen, dass Musk frauenfeindliche Dinge über US-Senatorin Elizabeth Warren twitterte, weil sie sagte, er solle mehr Steuern zahlen.1 Oder dass Mediendienste und Fachleute erhebliche Desinformationen im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas im Jahr 2023 beobachten.2, 3, 4

Als Think and Do Tank rund um Themen des Digitalen, möchten wir diese Entwicklungen aktiv reflektieren und einen Diskurs anstossen. Dafür stellen wir drei Fragen in den Raum:

  1. Welchen Nutzen hat Twitter für uns und für die Gesellschaft?

  2. Welchen Schaden verursacht Twitter in der Gesellschaft?

  3. Sind Twitter und Elon Musk voneinander zu trennen?

1. Twitter als Demokratiebooster?

Die Vorteile von Twitter sind nicht von der Hand zu weisen. Der Kurznachrichtendienst hat verändert, wie wir Informationen erlangen, politisch ins Gespräch kommen und Menschen eine Öffentlichkeit erhalten. Folgende Kernaspekte gehören zu den Grundvorteilen Twitters:

Ermöglicht Communitys:

Von Einzelpersonen bis hin zu den grössten multinationalen Unternehmen – Twitter bietet allen Arten von Nutzer:innen eine Plattform, um leicht mit einer grossen Zielgruppe zu kommunizieren. Menschen, die sonst über keine Ressourcen verfügen, können eine Öffentlichkeit erreichen, Teil einer eigenen Community werden und ihre Meinung frei äussern. Privatpersonen, Politiker:innen, Journalist:innen und Unternehmen können direkt miteinander in Kontakt treten, Informationen austauschen und diskutieren. Als Marke kann man mit Kund:innen in direkten Kontakt treten und so eine Community aufbauen.

Präsenz einflussreicher Persönlichkeiten:

Wir haben Midjourney gefragt, wie ein typischer Twitter-User aussieht. (Prompt: Typical Twitter user --no birds.)

Im Gegensatz zu anderen sozialen Plattformen wie Instagram oder TikTok, zeichnet sich Twitter besonders dadurch aus, dass durchs Band einflussreiche Politiker:innen, Journalist:innen oder Wissenschaftler:innen vertreten sind und direkt an Debatten teilnehmen. Eine Umfrage des Wissenschaftsmagazins «Nature» ergab jedoch, dass inzwischen mehr als 50 % der befragten Wissenschaftler:innen Twitter verlassen haben.5 Auch eine Branchenumfrage von netzpolitik.org bei verschiedenen Medien zeichnet ein düsteres Bild. So stelle die ARD beispielsweise einen deutlichen Verlust von Relevanz fest, das ZDF eine verschlechterte Stimmung und bei der taz spiele Twitter in Sachen Reichweite kaum eine Rolle mehr. Die Journalist:innen sprechen von einer «toxischen Plattform», auf der sie immer weniger aktiv seien.6

Kosten:

Grundsätzlich ist Twitter gratis. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um Leute zu befähigen, ihre Meinung frei zu äussern. Doch mit Twitter Blue und verschiedenen kostenpflichtigen Abonnements hat Twitter diejenigen, die nicht zahlen, eingeschränkt. Während das blaue Häkchen früher ein verifiziertes und echtes Benutzerkonto erkennbar machte, zeigt es heute nur, wer für die Nutzung der Plattform bezahlt. Zwischenzeitlich haben Nicht-Abonnent:innen die Möglichkeit der Zwei-Faktor-Authentifizierung verloren – eine wichtige Sicherheitsfunktion. Auch werden verifizierte (zahlende) Konten in Diskussionen und bei der Suche bevorzugt, wodurch es für kostenlose Konten schwieriger wird, auf der Plattform sichtbar zu werden.

Twitter hat sich für Nutzer:innen, die nicht für Blue bezahlen, rapide verschlechtert.7 Zuerst verloren sie ihre blauen Häkchen, dann ihre Sichtbarkeit. Auch wurde zwischenzeitlich die Möglichkeit, unbegrenzt Tweets zu lesen, abgeschafft. Im Moment experimentiert Elon Musk mit weitreichenden Einschränkungen für Gratis-Nutzer:innen. Wie sich das Twitter-Erlebnis für nicht zahlende Nutzer:innen entwickelt, hängt von undurchschaubaren und willkürlichen Prozessen ab.

Unmittelbarkeit von Informationen:

Über Twitter können in Sekunden Informationen global verbreitet werden. Aktuelle Ereignisse und Entwicklungen werden so für alle schnell verfügbar. Einer der grössten Vorteile von Twitter war aber auch schon immer Nachteil zugleich. Denn die selben Mechanismen ermöglichen es, dass sich Falschmeldungen in Kürze ausbreiten. Studien der MIT belegen, dass sich Unwahrheiten auf Twitter in allen Informationskategorien deutlich weiter, schneller, tiefer und breiter als die Wahrheit verbreiteten.8 Nun hat sich diese Problematik zusätzlich verschärft. Musk begann nur wenige Tage nach seiner Übernahme mit der Entlassung von etwa der Hälfte der rund 7.500 Mitarbeitenden des Unternehmens. Twitter Inc. hat unter dem neuen Eigentümer Elon Musk tiefgreifende Kürzungen in seinem bereits radikal verkleinerten Team von Content Moderators vorgenommen, das für die Kontrolle der geteilten Inhalte zuständig ist, sowie in der Abteilung, die sich mit Hassreden und Belästigung befasst. Dies scheint konkrete Auswirkungen zu haben. Forschungsergebnisse zeigen, dass die Website nach der Übernahme durch Musk hasserfüllter wurde. Laut Forscher:innen der USC, UCLA, UC Merced und der Oregon State University habe sich die tägliche Nutzung von Hate Speech durch diejenigen, die zuvor hasserfüllte Tweets gepostet hatten, nach dem Abschluss des Verkaufs durch Musk fast verdoppelt. Und auch das Gesamtvolumen von Hate Speech verdoppelte sich auf der gesamten Website.9

Freie Meinungsäusserung:

Als selbsternannter «Absolutist der freien Meinungsäusserung»10 will Musk Twitter von jeder Art von Zensur befreien. Doch auch dieser Ansatz ist nicht gegeben. Elons Twitter kooperiert in 80 % der Fälle mit staatlichen Zensuranfragen.11 Auch legt Musk eine hohe Willkür an den Tag, welche Inhalte er blockiert und welche Akteur:innen er sperrt. Der Chef-Twitterer scheint mehr als glücklich darüber zu sein, zu entscheiden, welche Art von Rede auf Twitter erlaubt ist und welche nicht, basierend auf seiner persönlichen Meinung. Musk begann Ende November 2022 mit der Aufhebung der Sperrung von Konten, beginnend mit Jordan Peterson und Donald Trump. Mehrere antifaschistische Konten wurden gesperrt, von denen viele von rechtsextremen Personen gemeldet wurden und Musk zum Handeln aufforderten. Zu den gesperrten Konten gehören eine Gruppe, die Sicherheit für LGBTQ+-Veranstaltungen bietet, und mehrere Konten, die Musk parodieren.12 Als weiteres Beispiel wäre da Musks wachsende Besessenheit mit der Transgender-Gemeinschaft zu nennen. Er erklärte, dass die Wörter «cis» und «cisgender» auf Twitter fortan als Schimpfwörter gelten.13 Doch «cisgender» bezeichnet einfach eine Person, die sich mit dem Geschlecht identifiziert, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Es gibt keinen anderen Ausdruck dafür.

«Freie Meinungsäusserung» bedeutet auf Twitter inzwischen einfach, dass rechtsgerichtete Ideen und Argumente bevorzugt werden.14

2. Erodiert Twitter den Glauben an einen funktionierenden Rechtsstaat?

Desinformation:

Desinformation ist ein grosses Problem in sozialen Medien. Auf Twitter hat sich die Problematik, wie bereits ausgeführt, zusätzlich verschärft. Auf Twitter finden sich Halbwahrheiten, aus dem Kontext gerissene Zitate, Hass und genuine Fakes. Die Verbreitung solcher Inhalte zieht in den allermeisten Fällen keine Konsequenzen mit sich. Verleumdungen, Lügen, Rassismus und menschenverachtende Inhalte auf Twitter sperren zu lassen, ist oft nur mit rechtlichen Schritten möglich und bleibt vermögenden Personen vorbehalten.

Trotzdem: Die Plattform hätte sich an geltendes Recht zu halten. Seit dem 25. August 2023 gibt es mit dem Digital Services Act (DSA) in der ganzen EU verbindliche Regeln, um gegen rechtswidrige Inhalte, zunehmende Desinformationen und Bots in den sozialen Netzwerken vorzugehen. Doch Twitter stützt sich auf den Standpunkt, dass es nicht für die Inhalte verantwortlich ist, sondern lediglich die Infrastruktur dafür zur Verfügung stelle. Nun droht Elon Musk mit dem Rückzug aus der EU. In den letzten Wochen hat Elon Musk angedeutet, dass X in Europa nicht mehr erhältlich sein könnte, um die neuen Vorschriften der Europäischen Kommission zu umgehen. 15

Auch der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats werden Fake-Zitate zugeschrieben.

Der Schaden von Desinformation auf politische Meinungsbildung ist offensichtlich. Zusätzlich muss über weitere Folgen nachgedacht werden. Auf Twitter könne dir jeder den Tod wünschen und Lügen verbreiten und dies sei ein Problem für den funktionierenden Rechtsstaat, meint Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, in dem Podcast der ZEIT «Alles gesagt?». 16 Im physischen Alltag werde man dafür gebüsst, wenn man wenige Zentimeter ausserhalb des Parkfelds parkiere. Online könne einem aber alles widerfahren, ohne dass es Konsequenzen nach sich ziehe. Wenn man dann erkennt, dass kaum etwas dagegen gemacht werde, korrodiere dies, laut Buyx, den Glauben an einen funktionierenden Rechtsstaat.

Zwischenfazit:

Twitter verfügt im Grunde über eine Fülle an Alleinstellungsmerkmale für demokratische Prozesse. Ein Grossteil dieser Vorteile sind jedoch zumindest zweifelhaft geworden oder wurden vollständig unterlaufen. Gerade die Frage, wie stark der Vorteil der Unmittelbarkeit von Informationen gegenüber der Verbreitung von Desinformation zu gewichten sei, ist schwierig zu beantworten. Dazu kommt die grosse Unsicherheit und die darin liegende Sprengkraft, dass die Gestaltung und Regulation von der Gemütslage einer übermächtigen Einzelperson abhängt.

Wir vom Dezentrum nutzen Twitter als Kanal, um unsere Community zu erreichen. Doch ist die potenzielle Gefahr gegenüber dem überschaubaren Nutzen gerechtfertigt?

3. Musk: Kann man einen Brandstifter ignorieren?

Elon Musk ist nicht nur Hauptaktionär von Twitter und damit in vielen Bereichen alleiniger Entscheidungsträger. Er reiht sich damit ein in eine lange Liste von vermögender Personen, die sich medialen Einfluss erkaufen. Jedoch kommt kein anderes Medienformat an den globalen Impakt von Twitter heran. Zusätzlich ist Musk als Privatperson hypersichtbar. Der Multimilliardär macht mit verbalen Ausfällen auf sich aufmerksam, seine eigene Rhetorik eskaliert zunehmend und er verbreitet rassistische und antisemitische Verschwörungserzählungen. 17

Die persönliche Twitter-Nutzung von Musk zu trennen ist schwierig, solange Twitter so direkt von Musk mit nahezu einseitiger Entscheidungsbefugnis geführt wird. Als reichster Mann der Welt mit enormer Reichweite haben seine Aussagen immer Konsequenzen auf Finanzmärkte, Konflikte, Meinungen und somit auf reale, menschliche Schicksale.

Ob wir als Dezentrum mit der Benutzung von Twitter Musk direkt unterstützen, hängt davon ab, welchen Wert man Aufmerksamkeit beimisst. Es hängt auch davon ab, inwiefern sich Twitter für Musk finanziell auszahlt. Dass mit der Twitter-Nutzung seine Einflussnahme unterstützt wird, ist jedoch kaum zu verhindern.

4. Schluss: Was sind die Alternativen?

Elon Musk hat Twitter versenkt. Millionen User:innen fragen sich nun, wohin es gehen soll. Alternativen sind einige vorhanden: Mastodon, Threads oder Bluesky wären da als Beispiele zu nennen.

Solange sich ein Grossteil der Leute weiter ausschliesslich auf Twitter bewegt, sind Alternativen schwierig. Doch immer mehr Personen und Institutionen stellen einen deutlichen Verlust von Relevanz und Reichweite fest.

Wann ist also der Moment gekommen, zu gehen?

Was sind eure Erfahrungen mit anderen Plattformen?

Schreibt uns eine Mail.

Quellen:

Musk, Elon (2019): My Twitter is pretty much complete nonsense at this point. Twitter (Abgerufen: 24.10.23).


[1] Isidore, Chris (2021): Elon Musk calls Elizabeth Warren ‘Senator Karen’ in fight over taxes. CNN (Abgerufen: 24.10.23).


[2] Milmo, Dan (2023): X criticised for enabling spread of Israel-Hamas disinformation. The Guardian (Abgerufen: 24.10.23).


[3] Goswami, Rohan (2023): X, formerly Twitter, amplifies disinformation amid the Israel-Hamas conflict. CNBC (Abgerufen: 24.10.23).


[4] Correctiv, (2023): Nach den Terrorangriffen der #Hamas auf Israel verbreiten sich in Sozialen Netzwerken irreführende Meldungen und Gerüchte. Twitter (Abgerufen: 24.10.23).


[5] Vidal Valero, Myrian, (2023) Thousands of scientists are cutting back on Twitter, seeding angst and uncertainty. Nature (Abgerufen: 24.10.23).


[6] Dachwitz, Ingo & Reuter, Markus (2023): So katastrophal bewertet die Medienbranche Twitter. Netzpolitik.org (Abgerufen: 26.10.23).


[7] Schroeder, Stan (2023): https://mashable.com/article/twitter-free-version-unsuable. Mashable (Abgerufen: 26.10.23).


[8] Soroush Vosoughi et al. (2018): The spread of true and false news online. Science 359, 1146-1151. DOI: 10.1126/science.aap9559


[9] Hickey, Daniel et al. (2023): Auditing Elon Musk’s Impact on Hate Speech and Bots. Oregon State University. Oregon.


[10] Musk, Elon (2022): Sorry to be a free speech absolutist. Twitter (Abgerufen: 24.10.23).


[11] Brandom, Russel (2023): Twitter is complying with more government demands under Elon Musk. Rest of World (Abgerufen: 24.10.23).


[12] Mackey, Robert & Lee, Micah (2022): ​​Left-Wing Voices Are Silenced on Twitter as Far-Right Trolls Advise Elon Musk. The Intercept (Abgerufen: 24.10.23).


[13] Musk, Elon (2023): The words “cis” or “cisgender” are considered slurs on this platform. Twitter (Abgerufen: 24.10.23).


[14] Serwer, Adam (2023): Elon Musk’s Free-Speech Charade Is Over. The Atlantic (Abgerufen: 24.10.23).


[15] Hays, Kali (2023): Elon Musk is considering taking X out of Europe amid EU compliance investigation. Business Insider (Abgerufen: 24.10.23).


[16] Wegner, Jochen & Amend, Christoph (2023): Alena Buyx, warum ist Leben nicht das höchste Gut?. Alles Gesagt? Podcast. Zeit (Abgerufen: 24.10.23)


[17] Breen, Kerry (2023): 100 Jewish leaders call out Elon Musk for antisemitism on X, formerly Twitter: "We have watched in horror". CBC News (Abgerufen: 24.10.23).

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