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Soziokratie 3.0 - Wie Dezentrum dezentralisiert

Kadira Mujkanovic
29.12.2021

Wo bleibt der Chef? Werden Verantwortlichkeiten ernst genommen? Wie kommt es, dass Gehälter transparent ausgehandelt werden? Wie ist Dezentrum eigentlich organisiert? Dieser Blog spricht diese und weitere Fragen explizit an. Von Experimenten mit verschiedenen Selbstorganisationsmodellen über die Einigung zu Soziokratie 3.0 bis hin zu ersten Handlungsempfehlungen, die wir seit der Einführung schon sammeln durften. Dies ist unser Beitrag zum Selbstorganisationsdiskurs.

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Seit unserer Gründung Anfang 2018 haben uns Selbstorganisationsmodelle fasziniert. Dezentralisierung von Entscheidungsgewalt, Flexibilität sowie selbstverwaltete Teams, welche hierarchischen und bürokratischen Strukturen entgegenwirken. Teal Organisation, Holakratie und Soziokratie 3.0 gehören zu den bekannten Beispielen. Einen soliden Überblick zu selbstorganisierten Arbeiten bietet die Teal Organisation. Allerdings ist diese ein eher abstraktes und wenig greifbares Konzept. Im Gegenzug dazu weist Holakratie klare Strukturen, Prozesse und Regeln auf die man 1:1 einführt. Dort wiederum fehlen uns die Gestaltungsfreiräume bei der Umsetzung. Beide Modelle bringen wertvolle Inputs mit sich. Unsere Aufmerksamkeit erweckte jedoch Soziokratie 3.0 (S3).

Für die Wahl von S3, waren drei Gründe ausschlaggebend. Einerseits, die Balance zwischen Freiräumen und Eingrenzungen. Andererseits, der Aspekt, dass S3 Materialien unter einer Open Source Lizenz frei zugänglich zur Verfügung gestellt werden. Und drittens, dass kein systematischer Implementierungsansatz, wie bei z.B. Holakratie, die Voraussetzung ist. Da S3 auf einem modularen Baukasten-Prinzip basiert, können Modell Elemente ausgewählt und an den Kontext sowie Bedürfnissen einer Organisation angepasst werden. Somit erlaubt S3 Organisationen mit einzelnen Elementen zu experimentieren, ohne dabei die ganze Organisationsstruktur umkrempeln zu müssen. Deswegen haben wir uns im Juni entschieden, Soziokratie 3.0 explizit einzuführen. Hierbei hat uns ein Experte begleitet. In diesem Blog teilen wir unsere Erfahrungen und Erkenntnisse.

Was ist Soziokratie 3.0?

Soziokratie 3.0, wurde 2015 von James Priest und Bernhard Bockelbrink entwickelt und besteht aus einer Sammlung von über 70 Mustern. Diese Muster sind praktische Werkzeuge, um alltägliche organisatorische Herausforderungen zu bewältigen. Ziel der Muster ist es, dass Organisationen selbständig in der Lage sind effektive und gleichberechtigte Zusammenarbeit umzusetzen und weiterzuentwickeln. Als Basis aller Muster dienen die sieben Grundprinzipien, welche für die Gestaltung der Organisationskultur bedeutsam sind. Diese sind: Kontinuierliche Verbesserung, Transparenz, Verantwortlichkeit, Empirismus, Konsent, Gleichstellung und Effektivität.

Übersicht aller S3 Muster und Prinzipien

Organisationsstruktur bei Dezentrum

Vor der S3-Einführung im Juni hatten wir weder offizielle Rollen noch eine explizite Organisationsstruktur. Vielmehr wurden Aufgaben und Verantwortlichkeiten implizit gehandhabt. In einem ersten S3 Workshop, geleitet durch unseren Experten, lernten wir verschiedene Muster von S3 kennen. Der Fokus lag dabei auf folgenden Mustern: Rolle, Wahl, Kreis, Servicekreis, Pfirsich-, Service- und Fraktalorganisation. Um einen Überblick zu unseren impliziten, also offiziell nicht existierenden aber irgendwo durch doch gelebten Rollen zu bekommen, starteten wir mit der Rollenzuordnung. Hierfür ordneten wir zunächst all unsere Verantwortlichkeiten.

Diese Zuständigkeiten wurden dann nach Ähnlichkeiten geclustert, auf deren Basis dann im nächsten Schritt Rollen entstanden. Für jede dieser Rollen definierten wir gemeinsam einen jeweiligen Namen sowie Zweck. Im Anschluss wurden die Rollen Personen zugeteilt.

Diese Rollen wurden nach dem Workshop mithilfe einer Organisationssoftware namens Peerdom digitalisiert. Peerdom ermöglicht das kollektive Entwickeln von dynamischen Organigrammen und gibt so einen Überblick zu allen Rollen, Verantwortlichkeiten, Zielen sowie Rolleninhaber:innen. Auf diese Weise ist die Organisationsstruktur von Dezentrum nicht nur explizit und transparent, sondern kann auch kontinuierlich überarbeitet und weiterentwickelt werden.

Projekte im Zentrum der Organisation

Für die Entwicklung unseres Organigramms, haben wir uns an einem der S3 Muster namens Pfirsichorganisation orientiert. Dieses haben wir an unsere Bedürfnisse angepasst. In der Darstellung unten sieht man die Kreisstruktur. Darunter verstehen wir die Dezentrum GmbH, welche rechtlich dem Dezentrum Verein gehört. Der Dezentrum Verein ist wiederum durch den Vereinsvorstand vertreten, welcher durch unsere Vereinsmitglieder gewählt wird. Wichtig hierbei; die GmbH und der Vereinsvorstand operieren unabhängig voneinander, es besteht also kein hierarchisches Gefälle. Was auf den ersten Blick kompliziert erscheint, ist der aktuell simpelste Ansatz, Soziokratie 3.0 mit den gegebenen Rechtsformen des Dezentrums zu kombinieren und zugleich dessen selbstorganisierten Charakter beizubehalten.

Die kleinsten Kreiseinheiten repräsentieren Rollen. Es gibt vereinsinterne Rollen, sowie externe Rollen, wie Beratung, Wirtschaftsprüfung und Buchhaltung. Die internen Rollen sind in Schichten angeordnet. Die innerste Schicht, Projekte, umfasst alle Rollen welche aktiv in Projekten involviert sind. Damit Projekte reibungslos funktionieren, braucht es Unterstützung. Diese bietet die umliegende Schicht Backoffice, welche alle nötigen Ressourcen für die Projekte bereitstellt. Backoffice ist wiederum umgeben von der Schicht Unternehmensentwicklung, welche als Schnittstelle zur Aussenwelt sicherstellt, dass neue Projekte generiert werden.

Kreisstruktur

Mit Spannungen umgehen

Spannungen entstehen wenn es Differenzen zwischen dem Jetzt und der Zukunft gibt. Also Spannungen zwischen der Frage «Wo bin ich jetzt?» und der Frage «Wo könnte/sollte ich sein?». Diese Differenzen haben wir alle während drei Monaten beobachtet: Ob und in welcher Weise unsere explizite Organisationsstruktur Spannungen verursachte. Dabei stellten wir uns Fragen wie: Welchen Einfluss hatten die Rollen, sowie das Organigramm auf unseren Arbeitsalltag? Welche Prozesse waren noch immer nicht reibungslos? Welche Spannungen waren persönlicher, und welche struktureller Natur? Antworten auf diese Fragen wurden dann in einem zweiten Workshop diskutiert. Dazu lernten wir das Muster Governance Meeting kennen, welches unter anderem genutzt werden kann um Lösungsansätze für Spannungen gemeinsam und effektiv zu definieren. Nebst einzelnen Spannungen, konnten wir insgesamt feststellen, dass die explizite Festlegung von Rollen und Struktur dazu beigetragen haben, mehr Klarheit zu schaffen. Dank dem klareren Bewusstsein in Rollen zu «denken» und zu «handeln» wurden Verantwortlichkeiten ernster genommen. Dies wiederum hat die Qualität unserer Arbeit verbessert.

Was wir gelernt haben

Der bisherige S3-Implementierungsprozess hat uns als Dezentrum weitergebracht. Da Soziokratie 3.0 je nach Organisation unterschiedlich aussehen kann, schätzen wir die Gestaltungsfreiheit. Durch ihre Modularität, ermöglicht uns S3 geeignete Muster nach Bedarf auszuwählen, miteinander zu kombinieren und an unseren Kontext entsprechend anzupassen. Schon vor der offiziellen S3 Einführung lebte Dezentrum den Ansatz von radikaler Transparenz. Beispiele dazu waren gemeinsame Lohnverhandlungen und regelmässige Einblicke in die Finanz- und Liquiditätsplanung. Diese Transparenz, als eines der sieben Prinzipien von S3, wurde durch die Einführung nochmals gestärkt. Gestärkt durch das explizite Definieren von Rollen und Verantwortlichkeiten, sowie durch die kontinuierliche Sammlung von Know-How, Arbeitsprozessen und Erfahrungen in unserem internen Wiki. Für den Fall, dass jemand ausfällt, kann so auf das Wiki zurückgegriffen werden.

Herausforderungen mit S3

Eine Herausforderung, welche die Einführung mit sich bringt, ist dass es Zeit beansprucht um zu verstehen, was Soziokratie 3.0 eigentlich ist. Die Website und das Handbuch bieten einen guten Überblick um sich Wissen anzueignen. Darüber hinaus gibt es sogar eine Online-Community zur Vertiefung des Know-hows und zum Austausch mit S3 Umsetzer:innen weltweit. Da es aber erst wenige Organisationen gibt, die mit S3 arbeiten, existieren kaum best-practice Beispiele an denen man sich orientieren könnte. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die Umsetzung einen unendlichen Prozess von Iteration und Weiterentwicklung darstellt, dem man immer wieder Aufmerksamkeit schenken sollte. Das bedeutet zusätzliche Ressourcen, die einplant werden sollten.

Was es braucht um S3 einzuführen

Einen Experten für den Implementierungsprozess in Betracht zu ziehen, ist keine Notwendigkeit, da Soziokratie 3.0 weitgehend selbsterklärend ist. Nichtsdestotrotz bringt ein Experte einige Vorteile mit sich. Erstens Fachwissen, zweitens Wirksamkeit und drittens eine neutrale und unabhängige Aussenperspektive, frei von organisationsspezifischen Interessen. Wir finden aber, dass es ebenso wichtig ist, interne Coaches zu ernennen. Das heisst, Personen, die den Umsetzungsprozess leiten, kontinuierlich evaluieren und weiterentwickeln, damit der Antrieb mit der Zeit nicht verloren geht. Interne Coaches sind auch wichtig um neue Teammitglieder in S3 einzuführen. Was in unseren Augen zur Vereinfachung des Umsetzungsprozesses beiträgt ist, wenn die Organisationskultur bereits die Weichen für S3 gestellt hat. Diese Kultur sollte unserer Meinung nach eine Prototype-Haltung verkörpern, in der Testen und Scheitern gefördert werden. Ausserdem braucht es die Bereitschaft zur Kulturanpassung, da die Einführung eines Organisationsmodells im Grunde eine Kulturveränderung darstellt. Des weiteren ist es sehr wichtig die Theorie mit der Praxis in Einklang zu bringen. Nur wenn die Mitarbeiter:innen die Muster auf persönlicher und organisatorischer Ebene auch tatsächlich umsetzen, ist die Einführung von S3 von Nutzen.

Fazit

Dank Soziokratie 3.0 konnten wir wichtige Arbeitsprozesse explizit gestalten. Dies hat uns nur geholfen, einen besseren Überblick zu bekommen und Verantwortlichkeiten besser wahrzunehmen. Zurzeit experimentieren wir mit weiteren S3 Mustern. Offen bleibt, welche davon wir in Zukunft umsetzen werden. Fortsetzung folgt. An dieser Stelle danken wir den Gründer:innen von Soziokratie 3.0 für die kostenlose Bereitstellung der Ressourcen, dem Experten Daniel Sigrist, der uns durch diesen Prozess geführt hat, und der Stiftung Mercator, welche die Einführung ermöglicht hat.

Fragen zu Soziokratie 3.0?

Soziocracy 3.0 oder New Work interessieren dich? Kontaktiere Kadira oder Ruben für einen unverbindlichen Austausch. Wir freuen uns auf Anfragen und Kommentare

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