Artefakt aus dem Projekt «Mitigation of Shock». Bild: Superflux
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Klimakrise: Weshalb Schweizer Städte Zukunftsexperimente wagen sollten
Auch in der Schweiz müssen Städte im Eiltempo klimaneutral werden. Doch die Komplexität der Klimakrise scheint zu Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit zu führen. Zukunftsexperimente können hier Abhilfe schaffen.
Die Schlüsselrolle der Städte
Mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte spielen Städte im nötigen Systemwandel eine zentrale Rolle. Heute lebt bereits mehr als die Hälfte der globalen Bevölkerung in Städten — Tendenz steigend. Es ist also zwingend, dass Städte klimaneutral werden, damit wir unser Überleben auf dem Planeten Erde sichern können.
Auch in der Schweiz sorgen Städte für den grössten CO₂-Ausstoss. Sie stehen damit in einer besonders grossen Verantwortung und haben gleichzeitig ein enormes Potenzial, den Wandel hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft zu beschleunigen. Städte wie Bern, Basel oder Zürich haben sich ambitioniertere Klimaziele gesetzt als der Bund. Doch sind die Städte auch dafür gerüstet, diese Ziele zu erreichen?
Gelähmt von der Komplexität
Das Bewusstsein für Handlungsbedarf in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft steigt. Politische Ziele sind gesetzt (z.B. Zürich Netto-Null bis 2040), doch es hapert bei der Umsetzung. Die Schweiz ist nicht auf Kurs und hat ihre Klimaziele bis 2020 in fast allen Sektoren verfehlt.
Die verantwortlichen Akteur:innen haben scheinbar noch keine ausreichenden Mittel gefunden. Das ist nicht überraschend, denn bei der Klimakrise handelt sich es um ein «Wicked Problem». Also ein Problem, das aus komplexen Wechselwirkungen besteht und zu dem es nicht die eine Lösung gibt.
«Wicked» meint auch, dass die Lösung eines Aspekts zu neuen Problemen führen kann. Installieren Städte beispielsweise überall Ladestationen für E-Autos, werden elektrisch betriebene Fahrzeuge attraktiver. Auf den ersten Blick scheint das sinnvoll, denn damit wird der CO₂-Ausstoss im Automobilverkehr gesenkt. Wenn nun aber alle E-Autos kaufen, entsteht ein Haufen grauer Energie (Energie für die Herstellung der Fahrzeuge) und es muss weit mehr grüne Energie produziert werden als bis anhin. Ausserdem bliebe somit ein Grossteil der Stadt mit parkierten Autos besetzt, womit Platz für die Umgestaltung der Stadt infolge der Klimaveränderungen fehlt (z.B. Pärke, Schatten, Velospuren). Es ist also fragwürdig, ob der exzessive Ausbau von Ladestationen in der Stadt eine nachhaltige Lösung ist.
Mit solchen Dilemmata und Interessenkonflikten sehen sich Entscheidungsträger:innen oft konfrontiert. Wenn hier die richtigen Strategien für eine systemische Problemanalyse und eine daran angepasste Herangehensweise fehlen, kann das zu Überforderung und Handlungsunfähigkeit führen.
Wo also soll angesetzt werden? Eine Methodik, die aus der Handlungsunfähigkeit befreien kann, ist das Experimentieren.
Experimente als Beschleuniger
Zürich hat beispielsweise mit ihrem Experiment «Bring’s uf d’Strass» die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten von Quartierstrassen und eine klimaangepassten Stadtgestaltung erprobt. Im Sommer wurden dafür Strassen temporär für Autos gesperrt und für Aufenthalt und Begegnung umgestaltet.
Experiment «Bring’s uf d’Strass!» in Zürich. Bild: Stadt Zürich
Statt also mit einem grossen Masterplan auf einen Schlag die Stadt umzubauen und sich dabei einzig auf Theorie zu stützen, testet man eine mögliche Zukunft in einem kleinen Rahmen. Daraus können wichtige Erfahrungen für eine Skalierung gewonnen werden. Führt die Zukunft auch in der Realität zu den gewünschten Ergebnissen? Wie reagiert die Bevölkerung darauf? Was könnte man verbessern?
Nachfolgend erläutern wir, was «Zukunftsexperimente» sind und wozu sie gut sind.
Zukünfte mit Zukunftsexperimenten erlebbar machen
Unter dem Begriff der Zukunftsexperimente verstehen wir Experimente, die gesellschaftliche Möglichkeiten erproben. Zukunftsexperimente können dabei helfen, herauszufinden, wie die Welt von morgen funktionieren könnte und sollte.
Unterschiedliche Zukünfte werden mit Experimenten erlebbar gemacht — und zwar in ganz unterschiedlicher Form. In London wurde beispielsweise eine zukünftige Wohnung eingerichtet, die radikal an die Folgen des Klimawandels angepasst ist. In der Küche werden Pilze gezüchtet, Lebensmittel eingemacht und Mehlwürmer herangezüchtet. Besucher:innen können so erleben, wie sich das Leben in Städten anfühlen könnte, wenn sich das Klima drastisch verändert. Dieses Zukunftsexperiment versucht so, die Grösse und Komplexität des Klimawandels greifbar, nachvollziehbar und konkret zu machen.
Zukunftsexperiment in Form eine Ausstellung: Wohnung angepasst an den Klimawandel. Bild: Superflux
Zukunftsexperimente können aber auch Hoffnung machen. Die Genossenschaft Pura Verdura erprobt in der Stadt Zürich eine Zukunft mit solidarischer Landwirtschaft. Zusammen mit erfahrenen Gärtner:innen bauen Genossenschaftsmitglieder ihr eigenes Gemüse an und fördern mit ihren Äckern die im Kontext der Klimakrise essentielle Biodiversität.
Das Feld von Pura Verdura, einer Genossenschaft, die mitten in der Stadt Zürich Gemüse nach den Prinzipien der solidarischen Landwirtschaft anbaut und damit ein strategisches Experiment über die Zukunft der Ernährung durchführt. Bild: Pura Verdura
Ein weiteres mutiges Zukunftsexperiment ist Ting, welches eine Zukunft mit Grundeinkommen erprobt. In dieser Community finanzieren sich 270 Mitglieder gegenseitig sogennante «Community-Grundeinkommen», mit denen unter anderem Vorhaben zur Förderung von Permakultur, Foodkooperativen und nachhaltige Menstruationsprodukte entstanden sind.
Die Eigenschaften von Zukunftsexperimenten
Zukunftsexperimente sind immer partizipativ. Das heisst, es werden möglichst viele unterschiedliche Akteur:innen und Perspektiven miteinbezogen.
Nebst dem partizipativen Charakter spielt auch die Transdisziplinarität eine entscheidende Rolle. Zukunftsgestaltung sollte auf dem Wissen, den Erfahrungen und Methoden aus verschiedensten Disziplinen aufbauen und wissenschaftliches mit praktischem Wissen verbinden. Daher werden Zukunftsexperimente idealerweise in einer Zusammenarbeit des öffentlichen und des privaten Sektors, der Zivilgesellschaft und den Wissenschaften gestaltet.
Ein einzelnes Zukunftsexperiment reicht nicht, um signifikanten Wandel herbeizuführen — es muss immer in Experimente-Portfolios gedacht werden. Das heisst, dass eine Vision (z.B. Wiederherstellung der Biodiversität) mit zehn oder mehr Experimenten auf unterschiedliche Art und Weise angegangen werden sollte.
Weshalb lohnt sich das?
Experimente-Portfolios setzen sich aus einer Vielzahl von Zukunftsexperimenten zusammen. Jedes Experiment erprobt wünschenswerte Zukünfte auf unterschiedliche Art, immer mit dem Ziel, sich in die Richtung der Vision zu bewegen. Bild: Dezentrum
Die Stärken von Zukunftsexperimenten
Experimente testen einen Lösungsansatz im Kleinen. Mit Portfolios von Zukunftsexperimenten wird die Chance erhöht, dass mehrheitsfähige und effektive Lösungen gefunden werden. Zusätzlich werden die Risiken minimiert, indem eine Vielzahl von Lösungsansätzen erprobt wird, statt nur auf eine Karte zu setzen.
Zukunftsexperimente sind kosteneffizient, weil in kurzer Zeit herausgefunden werden kann, ob ein Lösungsansatz greift oder nicht. Der Ansatz ist ausserdem bedeutend schneller, weil Zukunftsexperimente auf lokaler Ebene mit weniger Hürden realisiert werden können.
Da Zukunftsexperimente konkret erlebbar sind und im Heute stattfinden, kann damit auch ohne Fachexpertise über mögliche Zukünfte diskutiert und verhandelt werden. Dies ermöglicht, dass Zukünfte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und kritisch hinterfragt werden können. Mit ihrem partizipativen Charakter wird früh deren Mehrheitsfähigkeit geprüft, und durch die gemeinsame Gestaltung der Zukünfte der Polarisierung der Bevölkerung entgegengewirkt.
“Innovation comes from collective effort, not a narrow group of white men in California. If we want to solve the world’s biggest problems, we better understand that.” — Mariana Mazzucato
Genauso wie im obigen Zitat der Ökonomin Mariana Mazzucato verhält es sich auch bei der Innovation rund um die Klimakrise: nur gemeinsam, mit der Bevölkerung, kann der nötige Wandel nachhaltig erreicht werden.
Zukunftsexperimente setzen mutige Visionen voraus
Der Start für effektive Zukunftsexperimente liegt im Entwickeln von gemeinsamen Visionen. Dafür kann mit Szenarien gearbeitet werden: Welche Zukünfte finden wir wünschenswert?
Die Szenariotechnik als Hilfestellung zur Entwicklung von Visionen. Bild: Dezentrum
Im Policy-Sprint von Expedition Zukunft wurden beispielsweise mittels Megatrends, Studien und politischen Plänen zur klimaneutralen Mobilität im Jahr 2050 mögliche Zukunftsszenarien visualisiert.
Sieht so wünschenswerte Zukunft in Bern aus? Expedition Zukunft und Dezentrum haben fünf Zukunftsszenarien entworfen und diese mit Teilnehmer:innen aus Parlament, Verwaltung, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft diskutiert. Bild: Expedition Zukunft
Diese Szenarien bilden eine Grundlage für den Diskurs rund um unsere Zukunft und helfen dabei, eine gemeinsame Vision zu finden. Paris hat beispielsweise die Vision einer «15-Minuten-Stadt» und die schrittweise Abschaffung von Fahrzeugen verabschiedet. Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, erklärt das Vorhaben so:
“My project is about proximity, participation, collaboration and ecology. In Paris we all feel we have no time, we are always rushing to one place or another, always trying to gain time. That is why I am convinced we need to transform the city so Parisians can learn, do sports, have healthcare, shop, within 15 minutes of their home.”
Ist eine gemeinsame Vision formuliert, wird sie in ein Portfolio von Zukunftsexperimenten heruntergebrochen. Mit welchen Massnahmen könnte die Vision erreicht werden? Welche Experimente sind nötig und sinnvoll, um diese Massnahmen zu testen? Jedes Zukunftsexperiment verfolgt klare Ziele, mit denen laufend überprüft werden kann, ob das Experiment seine Wirkung entfaltet oder nicht. Ist ein Experiment wirkungsvoll, sollte es geografisch oder strukturell ausgeweitet werden. Somit wird die Wirkung des Lösungsansatzes multipliziert und die Vision rückt immer näher.
Bestätigt sich ein Experiment aus dem Portfolio als wirksam, wird es skaliert. Bild: Dezentrum
Wie Schweizer Städte zu Pionierinnen werden können
Schweizer Städte bieten ideale Voraussetzungen für Zukunftsexperimente. Eine starke Wissenschaft, innovative Unternehmen, eine engagierte Zivilgesellschaft und Erfahrungen aus partizipativen Projekten gehören zu den Stärken der Schweiz. Zusammen haben sie das Potenzial, Pionierlösungen zu entwickeln, die international inspirieren und den nötigen Wandel vorantreiben.
Der Norden macht bereits vor, wie es geht. Helsinki hat beispielsweise Testbeds eingerichtet, in denen die Entwicklung und Erprobung neuer Produkte und Dienstleistungen unter realen Bedingungen in Zusammenarbeit mit Unternehmen, städtischen Angestellten, Endnutzern, Universitäten, Fachhochschulen und Forschungsinstituten erfolgt.
Weshalb nicht auch Testbeds in Schweizer Städten? Zukunft ist gestaltbar. Sie darf nicht nur gedacht, sondern muss gemacht werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir in der von uns gemeinsam gewünschten Zukunft landen, wird mit Zukunftsexperimenten grösser.
Über Meso
Meso ist eine Allianz von Organisationen, die die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft gemeinsam anpacken wollen.
Förderpartnerin: Mercator Foundation Switzerland
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