Spekulative Reportagen, Teil des Arts for Future Projekts des Kultur Labor Zürichs, sind faktenbasierte Fiktionen, die Klimapolitik aus der Perspektive des Jahres 2050 jenseits von Verbrennungsmotorverboten und veganen Menüs betrachten. Sie zielen darauf ab, durch Zukunftsperspektiven neue Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart vorzuschlagen und angesichts der Klimakrise handlungsfähig zu bleiben.
Was bedeutet ein Anstieg der globalen Jahrestemperatur um 1.5℃ für meinen Alltag? Gibt es bald staatlich verordnete Siestas, weil Gewerkschaften sich erfolgreich dagegen gewehrt haben, dass Angestellte bei 40℃ arbeiten müssen? Wie würden Einkaufsmeilen in Innenstädten aussehen, wenn es Fast Fashion nicht mehr gäbe?
Auch wenn all diese Gedanken Spekulationen sind und es keine einfachen Antworten gibt, ist eins sicher: Es braucht Veränderungen, wenn es darum geht, wie Menschen, Gesellschaften und Nationen mit der Umwelt interagieren. Doch momentan fehlt uns noch ein ganzheitliches Verständnis, wie unsere Welt in nur schon zehn Jahren aussehen könnte.
Was es braucht, sind deswegen weder unrealistische Utopien, noch lähmende Dystopien. Es braucht etwas dazwischen: Erzählungen, die Wissenschaft zugänglich und Prognosen erfahrbar machen. Es braucht Vorstellungen darüber, wie eine klimaneutrale Zukunft aussehen könnte, um produktiv auf sie hinzuarbeiten. Es braucht spekulative Reportagen, die ein Verständnis generieren, unser Handeln reflektieren und Mut machen, kollektive Veränderungen anzustossen.
Um die Brücke zwischen den Vorstellungen der Zukünfte und Projektionen der Gegenwart in das Jahr 2050 zu schlagen, bedienen wir uns an Immersion-getriebenen Techniken. Ein vorangestellter Rechercheprozess dient der Umfeldanalyse und der Identifizierung von Problemfeldern und grundlegenden Fragestellungen, die der Workshop-Vorbereitung dienen. Die Resultate wurden in einem zweitägigen Intensiv-Workshop vertieft. Das Team, bestehend aus Jeannie Schneider, Samuel Eberenz, Manuel Stark, Anna Dreussi, Jamal Mahmoud und Gina Müller erstellte so einen theoretischen Rahmen für Erzählungen, mit dessen Hilfe sie drei faktenbasierte Fiktionen entwickeln konnten. Dabei folgten sie einem vorher klar formulierten Rahmenkonzept.
Zielsetzung
Entwicklung eines realistischen, handlungsorientierten Zukunftsszenarios für das Jahr 2050
Einflussanalyse
Identifikation und Diskussion der Schlüsselfaktoren, die den Alltag in Zürich bis 2050 beeinflussen
Sammlung relevanter Themen und Trends, Clustering und Gewichtung zur Vorbereitung auf die Projektionen
Immersion anhand von Nature Journaling und Reflexion
Sensibilisierung für Umwelteinflüsse durch das Festhalten von Beobachtungen und Gefühlen
Reflexion der aktuellen Umgebung und Projektion dieser Erfahrungen auf das Jahr 2050
Szenarioentwicklung
Anwendung des morphologischen Kastens zur strukturierten Entwicklung konsistenter Zukunftsbilder
Erarbeitung verschiedener Perspektiven durch kreatives Schreiben und Rollenspiele
Interpretation und Handlungsempfehlungen
Analyse der Szenarien und Identifikation treibender Kräfte
Ableitung von Handlungsempfehlungen und Vorbereitung der Grundlage für spekulative Reportagen und Texte
Neue Perspektiven neben Tech-Dystopie und Öko-Utopie
Oftmals sind unsere Vorstellungen von der Zukunft durch die Perspektive, aus der wir die Gegenwart betrachten, voreingenommen – aufgrund persönlicher Voreingenommenheit, Unwissen oder auch einfach fehlender Expertise. Hier kommt die Szenariotechnik ins Spiel: Sie zielt darauf ab, die Scheuklappen der Gegenwartskurzsichtigkeit abzulegen, um im multidisziplinären Team ganzheitliche und innovative Szenarien zu kreieren.
Szenarios bestehen aus der Beschreibung einer potenziellen, zukünftigen Situation und dem Pfad, der zu diesen Zukünften führt. Sie sind anhand von Daten extrapolierte und mit Imagination konsistent gemachte Zukunftsbilder, die die Welten der Empirie mit der Kreativität vereinen. Insofern eignen sie sich äusserst gut um die komplexe und fluide Entwicklung unserer Realität darzustellen. Als faktische Projektionsgrundlage für die Szenarien griff das Team auf die Klimaszenarien CH2018 Mittelland zurück.
Die aus dem Projekt resultierenden Spekulativen Reportagen brechen mit dem Versprechen des unbegrenzten linearen Wachstums und schaffen so eine Handlungsperspektive. Als Teil der Fintopiaausstellung wurden die drei Reportagen für die Gesellschaft als Ganzes zugänglich gemacht, um ebenso wie die entstandenen Geschichten die Zukünfte in den Alltag zu bringen.
Wo ruht unser Blick nun? Die entstandenen Texte formen uns bereits einen einheitlichen Erzählrahmen und verschiedene Persona, in die wir als Leser:innen eintauchen können. Als Vehikel der neuen Möglichkeiten, dienen sie uns zu fragen, in welche Richtung wir das Steuer einschlagen wollen. Der Aufprall wird kommen. Die 1,5-Grad-Grenze ist nur noch theoretisch zu erreichen. Doch was kann jeder von uns tun, um sich darauf vorzubereiten?