Obliviscis: In der Gemeinschaft aufgehen

Oberst Ayumi Friedman steht wartend, in aufrechter Haltung auf der Bühne der Mehrzweckhalle der Kaserne und schaut zu, wie die Kohorte auf den aufgereihten Plastikstühlen Platz nimmt. Bis auf das gelegentliche Quietschen von Sohlen auf dem Boden ist es still. Man merkt es der Menschschaft an: sie ist aufgeregt.

«Kohorte 7B, ich begrüsse euch zu diesem Informationsanlass. In der kommenden Stunde möchte ich euch einen Überblick über eine neue Trainingseinheit des Service Citoyenes geben. Ihr werdet als erste an diesem Experiment teilnehmen können, das als Pionierarbeit in die Geschichte eingehen wird. Es birgt grosses Potenzial, die Gefahren, die unser Land bedrohen zu bekämpfen.

Ich möchte euch daran erinnern, Kohorte 7B, dass ihr während des Service im Dienst der Demokratie steht. Die Verantwortung für das weitere Fortbestehen dieses Landes liegt in euren Händen. Und die Lage ist ernst. Unsere Nachbarländer scheitern alle an den gleichen Gefahren. Diese Gefahren, die die Schweiz, wie wir sie kennen zu zerstören drohen, kommen nicht von aussen, liebe Rekrutes, sie kommen von innen. Zu lange hat man zugelassen, dass Hass und Lügen, Ungleichheit und Armut das, was eine Gesellschaft im Kern zusammenhält, angreifen. Ihr seid erst der dritte Jahrgang, der den Service Citoyenes absolviert, der wieder Solidarität und Gemeinschaft in ein Land bringen soll, das so lange und so programmatisch gespalten wurde.

Ihr geniesst bereits jetzt eine Erfahrung die interdisziplinär, interkulturell und intergenerationell ist. Eine Ausbildung, die euch lehrt, sich in verschiedene Lebensrealitäten hineinzuversetzen und Gemeinsamkeiten in den Unterschieden zu finden. Nun können wir den Service Citoyenes noch immersiver machen. Vielen von euch fiel es bis anhin schwer, subjektiv geprägte Weltbilder und Grundüberzeugungen zu überwinden. Der Bias der unüberwindbar scheinenden individuellen Perspektive, er kann nun endlich überwunden werden!»

«Ayumi at her finest», flüstert Kaya Skye ins Ohr.

Die Rollläden werden heruntergelassen, Skye stösst einen Atemzug durch die Lippen aus. Auch wenn Ayumi Friedman eine kompetente Sozialarbeiterin ist, manchmal überzeichnet sie die politische Situation in der Schweiz dermassen, dass man sich in bürgerkriegsähnlichen Zuständen wähnt.

Vor den Rekrutes erscheint eine Präsentation, deren erstaunlich gut designte 3D-Modelle darauf hindeuten, von oberster Stelle zu kommen.

Nach einer etwas zu dramatischen Pause wechselt Oberst Friedman die Slide. Über den Köpfen erscheint eine rote, transparente Pille mit ovaler Form. Sie kreist um die eigene Achse. In schnörkellosem Helvetica Neueste erscheint die Beschriftung: Obliviscis.

«Ein Durchbruch der Hirnforschung: Obliviscis. Diese Pille ermöglicht es, unter kontrollierten Rahmenbedingungen, die eigene Person während ungefähr vier Stunden zu vergessen. Anders als bei anderen psychoaktiven Substanzen geschieht dies bei vollständigem Bewusstsein. Die Labortests deuten auf keinerlei negativen Nebenwirkungen hin. Was verspricht Obliviscis? Während der geführten Ich-Dissoziation verändert sich der Zustand der Psyche. Das Ich verschmilzt mit der Gemeinschaft, womit egoistische und partikulare Interessen vergessen werden. Die Probandes werden dann verschiedene komplexe Simulationen durchlaufen, in denen Entscheide, die das Allgemeinwohl betreffen, gefällt werden müssen. Diese Erfahrungen, darauf deuten die Ergebnisse hin, hinterlassen eine nachhaltige Veränderung in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Es gibt Anzeichen auf einen gesteigerten Gemeinschaftssinn und geschärfte kognitive Fähigkeiten, die sich auch nach der Einnahme noch während Wochen zeigt. Obliviscis verspricht, dass alle endlich der Gemeinschaft dienende Entscheide treffen können. Ich bin stolz, euch mitzuteilen, dass eure Kohorte, als erste ausgewählt wurde, um Obliviscis während des Service Citoyenes zu testen.

Die Einnahme der Pille beruht natürlich auf kompletter Freiwilligkeit. Diejenigen, die sich dafür entscheiden, werden in den nächsten beiden Wochen vom regulären Service suspendiert und können Körper und Geist auf die Erfahrung vorbereiten. Das Ganze passiert unter strengster wissenschaftlicher Überwachung und Begleitung. Herzstück des Testlaufs wird natürlich die Einnahme von Obliviscis und die anschliessende simulierte Entscheidungsfindung sein. Die Probandes werden im Folgemonat immer wieder zu ihrer Einstellung gegenüber politischen und gesellschaftlichen Fragen interviewt. Wir ermuntern alle zur Teilnahme an der Versuchsreihe. Die Anmeldefrist läuft bis morgen Abend.»

Am Nachmittag sollte Skye das Politforum moderieren. Die neue Diskussionsplattform ist Teil des Démocracie forte Programms, zu dem auch der Service Citoyenes gehört. Dieser obligatorische Politstammtisch ist noch in der Pilotphase. Und nur sehr selten findet darauf eine wirklich respektvolle Diskussion statt. Skyes Aufgabe ist es, die Plattform zu moderieren, um eine möglichst respektvolle Diskussion zu gewährleisten.

In der Zwischenzeit war das Vorhaben, Obliviscis einer Kohorte des Service Citoyenes zu verabreichen, geleakt worden und trendet mittlerweile auf beinahe allen Diskussionsplattformen. Im Politforum scheint es wenig überraschend das einzige Thema zu sein. Die Stimmung ist aufgeheizt. Zumal die geleakten Dokumente keine ausführlichen Informationen beinhalten und kein vollständiges Bild vermitteln. Auch für Skye ist es schwer nachvollziehbar, wieso die Pille gerade jetzt eingeführt werden sollte… «Nicht abschweifen», denkt sich Skye und konzentriert sich wieder auf die Diskussion im Politforum: Zwar hatte sich das Vertrauen in den Staat und in Experteswissen signifikant verbessert; aber die neue “Staatsdroge” schürt wohl wieder alte Ressentiments. Skye hat den Überblick völlig verloren. Wie viele Gänsefüsschen sie schon vor dem Satz “keine” Nebenwirkungen gelesen hat. Jemand redet von 5G und Skye muss erst googlen, was damit überhaupt gemeint ist. Sie kann sich das Kichern nicht verkneifen und versucht sich vorzustellen, was in den Boomerköpfen wohl so vorgegangen war zu der Zeit, als plötzlich die ganze Welt von dem Ding Internet umgekrempelt wurde. Gleichzeitig wird der Ton immer harscher. Die Diskutierenden verheddern sich in fadenscheinigen Argumenten und immer mehr Beleidigungen mischen sich in die Sätze. Skye kommt fast nicht mehr nach mit der Moderation, und wird selbst zur Zielscheibe. Schliesslich sei ja auch sie «eine Jüngerin des Staates» und die ganze Plattform sowieso ein Werkzeug staatlicher Indoktrinierung. Ihr BeFit vibriert leicht und auf dem kleinen Screen erscheint ein Wasserglas. Sie muss eine Pause machen und schaltet ihren Holobildschirm auf Standby. Skye holt sich ein Glas Wasser und kann den Blick doch nicht von dem dunklen Screen lösen. Sie atmet tief durch, so wie es ihr das Befit gerade nahegelegt hat. In den zwei Minuten ihrer Pause gab es bereits wieder 50 neue Kommentare die Orange, also zu überprüfen wegen unzureichender Faktenlage eingestuft wurden. Skye brummt der Kopf, inzwischen kommt ihr diese ganze Übung einfach nur noch zermürbend vor.

«Machst du es?», fragt Lou, als sich Skye zu ihr an den Tisch setzt.

Nur Stunden später haben sich die meisten Rekrutes eine Meinung gemacht. Es ist laut in der Kantine, man muss sich anstrengen, um die Bestellung – Erbsenprotein oder Curry – deutlich genug auszusprechen, damit sie vom Stimmerkennungssystem gehört wird. Skye setzt sich an den gleichen Tisch wie immer. «Ich weiss ehrlich gesagt nicht, wieso ich hier Monate damit verbringe, online Kommentare und Fakten zu prüfen, wenn uns eine Pille in ein paar Stunden magisch umpolt», Lou schiebt ihren Teller mit der linken Hand in die Mitte des Tisches. «Es gibt ein völlig falsches Signal ab, ich dachte, die Idee des Service Citoyenes wäre gerade, dass man durch Bildung und soziale Erfahrungen eigenständig dazu kommt, sich für die Gemeinschaft einzusetzen und jetzt kommen sie mit dieser Pille, und das obwohl andere Drogen immer noch nicht legal sind. Das ist doch einfach inkonsequent und zu simpel!»

«Du tönst wie jemand aus dem Internet», erwidert Kaya. Ihre Provokation würde Lou erfahrungsgemäss dermassen in Rage bringen, dass die nächste halbe Stunde – mindestens – mit einer von Lou sehr ernst und von Kaya sehr anstachelnd geführten Diskussion enden würde. Skye möchte in diesem Moment am liebsten aufstehen, sie hat keine Lust auf emotionale Diskussionen. Aber bevor sie genug Kalorien zu sich genommen hat, lässt sie ihr Befit nicht ohne Punktabzug aufstehen.

«Ich rede überhaupt nicht wie jemand aus dem Internet, Kaya, und das weisst du genau. Nur weil ich mich nicht blindlings einer Staatsdoktrin hingebe. Schliesslich war es überhaupt erst dieser Staat, der uns in diese Lage gebracht hat, in der man sich ein durch Individualismus verkrüppeltes Gemeinschaftsorgan wieder mühsam antrainieren muss. Diesem Staat soll ich also bei einem solchen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit trauen?»

«Also ich mache es ja nur schon wegen des Trips. Stell dir vor, du vergisst plötzlich wer du bist, woher du kommst, aber bist völlig bei Verstand.» Kaya nimmt ihre Gabel, wie ein Röhrchen zwischen Daumen und Zeigefinger und tut so, als würde sie ihr Erbsenprotein durch die Nase ziehen.

«Ich kann nicht glauben, dass du es auf das reduzierst! Das ist genau die Denkweise von Menschen, die ihre eigenen Interessen über diejenigen einer Gemeinschaft stellen.» Hätte Lou ihren Teller nicht schon vehement von sich geschoben, würde das spätestens jetzt passieren. So wirft sie ihre Hände mit einer pathetischen Geste in die Luft. Was Kaya gerade sagte, meinte sie wahrscheinlich schon so, aber vor allem wollte sie neues Öl ins Feuer giessen.

«Ich denke, es könnte schon interessant sein. Ich meine, du hast einen Punkt, Lou, aber auf der anderen Seite, solange es nur ein Teil des Service ist und freiwillig bleibt, wieso nicht? Ausserdem weisst du ja selber, wie ernst die Lage ist. Vielleicht haben wir einfach nicht mehr genug Zeit, dass alle sich erst richtig bilden. Nicht alle wurden schliesslich in eine Akademikerfamilie hineingeboren.» Skye wollte eigentlich etwas sagen, um die Diskussion auf eine etwas substantiellere Ebene zu heben, scheitert aber an diesem zwar wahren, aber unbeabsichtigten Seitenhieb. Lou wird noch energischer: «Gerade deswegen! Sollen Menschen, die aus sozial schwächeren Schichten kommen, wirklich einfach vom Staat unter Drogen versetzt werden, um auf eine Staatslinie gebracht zu werden? Bist du dir bewusst, was du da überhaupt sagst? Siehst du nicht das Missbrauchspotenzial?»

«Ja, klar. Aber wir haben ja demokratische Institutionen, da wird sowas schon nicht passieren», Skye schiebt sich die letzte Gabel Erbsenprotein in den Mund und steht vom Tisch auf.

Positive Zukunftsszenarien für eine Digitale Demokratie

Diese Kurzgeschichte erzählt eines von drei Zukunftsszenarien für die (digitale) Demokratie im Jahr 2050. Die Zukunftsszenarien sind Teil der Studie «Szenarien zu Demokratie und Digitalisierung in der Schweiz: Ein partizipatives Zukunftsexperiment» und wurde im Auftrag der TA-SWISS durch den Think und Do Tank Dezentrum durchgeführt. Sie ist Teil des TA-SWISS Projektes Digitalisierung und Demokratie, welches zwei weitere Teilstudien umfasst, namentlich des gfs.bern und des Dachverband Schweizer Jugendparlamente. Die Artefakte entstanden in Zusammenarbeit mit Studio Porto und wurden fotografiert von Tobias Siebrecht.

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