Risotto ai Funghi Porcini: Akte Mykhorrhiza

14:53 Uhr. Es ging alles ganz schnell. Es geht irgendwie immer alles ganz schnell. Aber diesmal ging es zu schnell. Die Hände zittern noch, der Puls ist viel zu hoch. Es hätte nicht so weit kommen dürfen. Sahar stürmt in die Wohnung. Esra sitzt verstört auf der Bank, kann den Blick nicht von den Stängeln und Stielen lösen, die auf Schneidebrett neben dem Messer liegen. Ihr war ein ordentlicher Schreck eingejagt worden.

Wieder vibriert das Smarterphone. Grandjean erscheint, wütend gestikulierend. «Sahar, wir brauchen dich in der Sitzung, wieso bist du nicht mehr im Parlament?» Sein Mundgeruch schlägt ihr ins Gesicht und leicht nostalgisch denkt sie an die alte Telefonie, die nur Stimme und manchmal Bild vom Gegenüber übermittelte. Grandjean ist ein wütender Mann, und er hat Recht, Sahar muss sich so schnell wie möglich ins Office zuschalten. Sie streicht der Tochter übers Haar. Eigentlich müsste sie doch jetzt bei Esra sein, um sie von dem Schock zu beruhigen. «Esra, ich muss mich schnell zurück ins Office schalten, es ist ein Notfall. Ich bin gleich wieder bei dir.» Draussen schien die Sonne. Die Vorlage «Ausweitung des Rechtsstatus der Mykorrhiza» war auf 13:15 Uhr angesetzt, davor, um 12:00 Uhr, der Hololunch mit Esra. Vor knapp drei Stunden war sie noch mit Esra am Mittagessen gewesen, es schien alles planmässig abzulaufen. Nichts deutete auf diesen Fehler hin. Die Anträge waren geprüft worden, alle waren durchgekommen. Es hätten nicht alle durchkommen dürfen.

Auch am Morgen war alles noch ganz normal, als sich pünktlich um 7:45 Uhr, die grossen Flügeltüren des Parlaments öffneten und Sahar bei der Arbeit ankam. Hunderte Hologramme, die über, hinter und vor den Screens liefen und Bildschirme, die in Echtzeit Informationen auswerteten. Ein Stimmengeflecht, das so dicht war, dass man den Dissens förmlich greifen konnte. So sieht Connected Democracy aus. Aber, und das musste sie sich jetzt schmerzlich eingestehen, Connected Democracy macht auch Fehler. Vor rund zehn Jahren war es nur eine hauchdünne Mehrheit gewesen, die die Initiative zur Totalrevision der Verfassung annahm. Das Hauptanliegen war es, den parlamentarischen Prozess den realen Lebensdynamiken des 21. Jahrhunderts anzupassen. Nachdem immer weniger Menschen tatsächlich an der direkten Demokratie teilnahmen und die Ressentiments gegenüber «dem Establishment» nie dagewesene Ausmasse angenommen hatten, wurden Rufe nach einer immer Veränderung lauter. Die Totalrevision passte die Institutionen einer neuen gesellschaftlichen Realität an, anstatt mühsam Menschen dazu zu bringen, auf die alte Art zu partizipieren. Endlich konnte man die agilen Gesetze erlassen, die die Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft beantworteten. Gesetzesvorlagen sollten nicht mehr jahrelang in Gesetzgebungsprozessen versickern. Alle können nun, mit genügend Rückhalt, innert weniger Stunden eine Gesetzesänderung durchbringen. Komplexe KIs simulieren in Szenarien die Konsequenzen der Annahme oder Ablehnung einer Vorlage. Diese Simulationen dienen den Stimmberechtigten als Entscheidungshilfe.

Auch ein Blick auf ihren Kalender deutete auf keinerlei besondere Vorkommnisse hin. Und der heutige Tag hätte ein normaler für Sahar werden sollen. Sie ist High Frequency Deliberaterin, das heisst, sie organisiert die Abläufe im agilen Gesetzgebungsverfahren und ist dafür verantwortlich, hier den Überblick zu behalten.

Wie gesagt stand die Vorlage Ausweitung des Rechtsstatus der Mykorrhiza um 13:15 Uhr an. Diese sollte zuerst noch einmal ins Crowdwriting geschickt werden, um abschliessend geprüft zu werden und am späteren Nachmittag vors Volk kommen. Die Mykorrhizenvorlage zog erstaunlich viel Aufmerksamkeit auf sich. Der Zähler, der die Zustimmung in der Bevölkerung anhand von Interaktion mit der Vorlage mass, kletterte immer weiter in die Höhe. Da Sahar die Vorlage erst für nach dem Lunch mit Esra eingeplant hatte, öffnete sie die genauen Auswertungen der Interaktionen noch nicht, sondern schaltete sich via Hologram zu Esra, die gerade von der Schule nach Hause kam.

Esra sass zuhause am Tisch und wartete auf das Essen. Sie plauderte von ihren Hausaufgaben, für die sie einen Kampagnenvorschlag auf engage.ch für den cours démocratique machen musste. Sahar achtete nicht darauf, was Foodbot im Hintergrund machte. Esra und sie stellten das Menü, das Foodbot aus biologischen und saisonalem Gemüse kochte, jeweils immer am Anfang der Woche zusammen. Noch bevor das Essen auf dem Tisch stand, wurden sie von einem Anruf von Sahars Vorgesetzten unterbrochen. Sie müsse in die Trading Area runter. Sein Tonfall liess wenig Widerrede zu, also schloss sie das Hologramm von Esra, die enttäuscht zurückblieb. Familie und Beruf war noch immer nicht einfach zu vereinbaren. Sahar seufzte, liess ihren Salat auf dem Tisch im Pausenraum stehen und ging schnell nach unten.

Die Flügeltüren öffneten sich wieder, aber etwas war anders als vorher. Eine Menschentraube bildete sich um ihren Arbeitsplatz, alle schauten auf die Mykorrhizenvorlage, deren Text gerade über den Screen lief. Einige schüttelten den Kopf, es war auch ungewöhnlich still. Die Vorlage war vorgezogen worden, eigentlich wäre sie erst in der Anfangsdemoskopie gewesen, aber nun hatte die Absegnung des definitiven Wortlauts schon eine Mehrheit gefunden. Es fehlten auch nur noch 1273 Stimmen für die definitive Annahme. Die Greeners, die die Vorlage initiierten, hatten offenbar ihre gesamte Basis mobilisiert.

Absatz 2. Es war Absatz 2. Während dem Crowdwriting wurde etwas umgeschrieben. Der Absatz 2 definierte den Schutzbereich folgendermassen: «Als Mykorrhiza wird eine schützenswerte Form der Symbiose von Pilzen und Pflanzen bezeichnet, bei der ein Pilz mit dem Feinwurzelsystem einer Pflanze in Kontakt ist». Er wurde, nicht sinngemäss, ergänzt um den Nebensatz «der Gesamtkörper der Mykorrhiza umfasst genauer das Myzel und den Fruchtkörper». Sahar versuchte, sich an ihre Biologiestunden zu erinnern, aber die Unterscheidung Myzel und Fruchtkörper waren nur noch vage Begriffe.

Es blieb aber keine Zeit, um die genauen Definitionen nachzuschlagen, das hätte sie eigentlich um 13.11 Uhr in Auftrag gegeben. Aber es war erst 12.50 Uhr und die Vorlage war bereits in der Abstimmungsphase. Warum ging das jetzt so schnell? Sie blickte auf die Screens mit den Simulationen. KIs prognostizierten dort, was auf die Annahme oder Ablehnung der Vorlage folgen würde. Auf den drei Bildschirmen liefen unterschiedliche Szenarien ab, die die Zukunft skizzierten. Man darf diese nur als Richtwert betrachten, schliesslich kann niemand die Zukunft voraussehen. Die Szenarien zeichneten gesunde Wälder, ein Wiederaufleben des Amazonas, sogar eine Zunahme der Artenvielfalt. Euphorie machte sich bei den Stimmberechtigten breit. Die Stimmen für das Gesetz schossen rasant in Richtung absolute Mehrheit.

Auf einem anderen Screen tauchten plötzlich kurze Sequenzen auf, auf denen Menschen Pilze assen. Sie taten es merkwürdig verstohlen in dunklen Kammern. Dann plötzlich Tumult auf dem Bildschirm; eine Türe wird aufgebrochen, eine Spezialeinheit der Polizei in Schwarz stürmt in das Zimmer. «Gabeln fallen lassen!» Ihre Pistolenläufe werden gezogen, die Pilzessenden werfen den Tisch um und der Spezialeinheit entgegen. Es folgt ein Handgemenge. Wenig später eng angezogene Kabelbinder an Handgelenken.

Plötzlich fiel es Sahar wie Schuppen vor die Augen: Der Fruchtkörper! Die Definitionsmenge wurde erweitert um den Nebensatz: «der Gesamtkörper der Mykorrhiza umfasst genauer das Myzel und den Fruchtkörper». Der Fruchtkörper, das waren Speisepilze. Und damit würden Champignons, Steinpilze und Konsorten in den Schutzbereich fallen. Das Essen von Speisepilzen würde zur Straftat. Der Stimmenzähler brach ein, für einen Moment stagnierte die Vorlage. Sahars Smarterphone vibrierte, automatisch ging ihr Blick zum Screen: Esra hatte ihr ein Live-Bild geschickt, sie sass vor noch einem leeren Teller. Der Stimmenzähler stieg wieder. Sahar öffnete die Nachricht und plätzlich kam ihr in den Sinn: Pilzrisotto. Für Mittwoch stand auf dem Menuplan: Risotto ai Funghi Porcini. In dem Moment servierte Foodbot ihrer Tochter das Essen und gleichzeitig schaltete sich der Holoscreen grün, die Vorlage war angenommen worden. Sahar sah, wie Esra sich eine Gabel der nun verbotenen Substanz in den kleinen Mund schob und sie schrie: «Weg von den Funghi!».

Positive Zukunftsszenarien für eine Digitale Demokratie

Diese Kurzgeschichte erzählt eines von drei Zukunftsszenarien für die (digitale) Demokratie im Jahr 2050. Die Zukunftsszenarien sind Teil der Studie «Szenarien zu Demokratie und Digitalisierung in der Schweiz: Ein partizipatives Zukunftsexperiment» und wurde im Auftrag der TA-SWISS durch den Think und Do Tank Dezentrum durchgeführt. Sie ist Teil des TA-SWISS Projektes Digitalisierung und Demokratie, welches zwei weitere Teilstudien umfasst, namentlich des gfs.bern und des Dachverband Schweizer Jugendparlamente. Die Artefakte entstanden in Zusammenarbeit mit Studio Porto und wurden fotografiert von Tobias Siebrecht.

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